Eindrücke aus Charkiw: Alle wollen bloß noch weg

In Charkiw harren seit einer Woche Menschen in den U-Bahnhöfen aus. Die 30-jährige Ukrainerin Vika hilft ihnen bei der Flucht.

Junger Mann schleppt Wasserkanister durch zerstörte Innenstadt

Gefährlicher Alltag: Ein Junge holt Wasser während die Bomben in Charkiw fallen Foto: Vyacheslav Madiyevskyy/imago

Ich bin jetzt gerade in der Stadt Switlowodsk, das ist rund 300 Kilometer von Charkiw entfernt. Für den Weg haben wir 24 Stunden gebraucht. Mein Mann und ich haben mit unserem Kleinbus eine Kolonne von sechs Autos begleitet, insgesamt mehr als 30 Leute, die alle aus Charkiw fliehen mussten. Immer wieder mussten wir überprüfen, ob es noch Benzin für alle gibt. Unterwegs haben wir viele Autos gesehen, alle wollen bloß noch weg.

Hier in Switlowodsk ist es noch sicher, zumindest wird noch nicht geschossen und es gibt keine Angriffe. Ich und meine Hilfsorganisation „Ukrainische Grenzen“ haben hier eine Art Anlaufstelle für humanitäre Hilfe eingerichtet. Wir bringen Menschen aus Charkiw hierher und helfen ihnen dann, weiterzukommen Richtung Polen. Aber viele von ihnen wollen nicht. Sie wollen ihre Verwandten nicht zurücklassen. Und sie haben einfach Angst, da nicht lebend anzukommen. Es gibt jetzt so viele Fake News, dass es in vielen Städten unsicher sei.

Am Freitag um sechs Uhr morgens fahren mein Mann und ich wieder zurück nach Charkiw. Er ist diesmal mitgekommen, damit wir uns beim Fahren abwechseln können. Wir werden standhalten. Das braucht viel Kraft, aber wir haben sie. Aus Charkiw sind am Mittwoch 22.000 Menschen geflohen. Alle sprechen jetzt in Charkiw von einem zweiten Stalingrad. Luftangriffe, Raketen – die ganze Zeit geht das so. Sie beschießen alles, auch kleine Dörfer im Charkiwer Gebiet. In Charkiw ist die Lage katastrophal. Die Menschen sitzen seit über einer Woche in den U-Bahn-Stationen: Alte, Familien mit ihren Kindern und Haustieren. Es wird immer schwieriger, noch Lebensmittel und Wasser aufzutreiben.

Aber wir halten durch. Es gibt auch viele Freiwillige, die jetzt in den Krankenhäusern mithelfen. Alle halten zusammen, auch innerhalb der Familien. Ich habe mit meinem Vater 20 Jahre nicht gesprochen, aber jetzt bietet er mir jede Unterstützung an. Ich glaube immer noch an den Sieg, dass wir es schaffen können. Die russische Armee hat noch keine größere Stadt besetzt, auch Charkiw nicht. Deshalb herrscht unter den russischen Soldaten dort Hysterie.

Der Hass gegenüber Russland wächst

Manchmal wundere ich mich über mich selbst. Ich fluche den ganzen Tag. Fick dich, Putin, du Scheißkerl, früher hätte ich mich da zurückhaltender ausgedrückt. Unter den Menschen wächst der Hass gegenüber Russland. Ich bin eigentlich zweisprachig, Russisch und Ukrainisch, aber jetzt bin ich zum Ukrainischen übergegangen.

Ich werde in Charkiw bleiben und weiter versuchen, Menschen mit meinem Bus aus der Stadt herauszubringen. Und ich werde, wenn nötig, zur Waffe greifen, obwohl sie bisher nur Leute mit Kampferfahrung nehmen. Bei den Stellen, wo sich Freiwillige melden, um Charkiw zu verteidigen, werden die Schlangen immer länger.

Ein Witz lautet: Wie viel Schmiergeld muss man bezahlen, um eine Waffe zu bekommen. (Vika lacht) Das ist schwarzer Humor, aber wie soll man das sonst alles aushalten. Ich würde mir sehr wünschen, dass es eine Flugverbotszone geben wird. Damit sie endlich aufhören, diese schrecklichen Luftangriffe …

Am Freitag ist der nächste Kontakt geplant. Wenn es dann noch eine Verbindung gibt, sagt Vika.

Protokoll: Barbara Oertel

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