Ein Problem der Wahrnehmung: Eben eine alte weiße Frau
Sie sehe, meint unsere Kolumnistin, für ihr Alter noch ganz gut aus. Andere aber sehen das nicht. Weil man im Alter auf merkwürdige Weise unsichtbarer wird.
E s ist nicht leicht für mich, das zuzugeben, aber seit ich 60 bin, finde ich das Älterwerden ganz schön scheiße. Dabei lief es bis jetzt ganz gut: Ich bin fit, auch gesund, soweit ich weiß, halte mich innerlich wie äußerlich gerade und nach wie vor für neu- und wissbegierig und sehe für mein Alter noch ganz gut aus, finde ich. Nur sieht das außer mir offenbar fast keine:r mehr.
Genau das ist mein Problem mit dem Altern: Man wird auf merkwürdige Weise unsichtbarer – nicht, indem man tatsächlich als physisch existente Person nicht wahrgenommen wird. Aber man wird offenbar nicht mehr als Individuum gesehen, als die eigenständige Persönlichkeit, die man ist oder zu sein glaubt oder jedenfalls sein möchte. Insbesondere widerfährt mir dies von Menschen, die so mindestens zwei Jahrzehnte jünger sind als ich. Sie scheinen mich zwar zu sehen, dabei aber nur noch eines erkennen zu können: eine alte weiße Frau.
Mich trifft das ins Herz, denn es reduziert mich: Ich werde nicht er-, sondern verkannt. Etwa, wenn der Zugbegleiter das Handy ignoriert, das ich ihm entgegenstrecke, und stattdessen darauf wartet, dass ich Papierenes aus der Tasche krame, weil er mir offenbar nicht zutraut, digital gebucht und eingecheckt zu haben. Oder wenn die neue US-amerikanische Nachbarin, die bei mir ihr Paket abholen will, extra langsam und deutlich fragt: Do you speak English? Was sie mir scheinbar nicht zutraut – warum nur? Weil sie etwas sieht, von dem ihr offenbar nichts Gutes erzählt wurde: eine alte, weiße und dazu auch noch deutsche Frau.
Auch mal ’ne Fortbildung machen
Vor Kurzem war ich mit einigen Bekannten – alle mindestens zwei Jahrzehnte jünger als ich – bei einer Diskussion über queerfeindliche Gewalt. Auf dem Podium und im Publikum viele Fachleute und Betroffene, junge und ältere, weiße und PoC – und ich, wie gesagt, ich bin neu- und wissbegierig. Weil ich eine Abkürzung, die in der Debatte benutzt wurde, nicht kannte, fragte ich einen der Freunde neben mir nach deren Bedeutung. Noch bevor ich seine Antwort hören konnte, kam von einer anderen Person ein Kommentar zu meiner Nachfrage. Er lautete: „Boah, du musst aber auch mal ’ne Fortbildung zum Thema Queerfeindlichkeit machen!“
Mein erster Gedanke – ich will mich hier nicht besser machen, als ich bin – war noch etwas bösartiger als „Bitch!“. Ich war schockiert: Diese Person wusste nichts über mich, hatte keine Ahnung, wer ich bin, wie ich denke, was ich getan, gesagt, geschrieben, wie ich mein Leben gelebt habe. Und es interessierte sie ja offenbar auch nicht: Sie stellte keine Frage, sondern zog ihre Schlussfolgerung allein aus dem, was sie zu sehen glaubte: eben eine alte weiße Frau.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Mich macht das wütend. Denn ich mag sie ja grundsätzlich gern, diese jungen Leute. Ich lerne viel durch sie und von ihnen und freue mich über ihre selbstbewusste, kämpferische Art, sich die Welt anzueignen – wenn ich dabei auch nicht alles toll finde, was sie so von sich geben.
„Mir ist das oft einfach zu schwarz-weiß, zu exklusiv“, beklage ich mich bei einem ehemaligen taz-Kollegen, der mich manchmal besucht, auch er zwei Jahrzehnte jünger als ich. „Wenn du mit mir essen gehst, werden die Leute denken: Der Arme, er hat Besuch von seiner Mutter“, scherze ich. Er bringt mir Blumen mit und sagt: „Es soll ja Leute geben, die sich freuen, wenn ihre Mutter sie besucht.“
Geduldig hört er sich meine Erfahrungen des Unsichtbarwerdens und meine Wut darüber an: „Verstehe ich die Welt nicht mehr? Verstehe ich sie plötzlich richtig? Oder werde ich einfach nur alt?“ „Genau so wird es wohl sein“, sagt er, und zum Abschied dann noch freundlich: „Nimm dich doch einfach nicht mehr so wichtig.“ Hoppla, denke ich erst, was erlaubt der sich? Und später: Was für eine gute Idee! Denn im Grunde kann Unsichtbarkeit ja auch ganz schön befreiend sein.
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