Ein Nachruf auf Ingo Bauer: „Mann, Papa!“
Der Vater unserer Autorin ist gestorben. Er lebte ein Leben voll mit Schönem und Nicht-so-Schönem. Eine traurige wie liebevolle Kolumne zum Abschied.
V or einem Jahr kam mein Vater auf die denkbar schwerste Weise zu schaden: er starb“, lautet der grandiose erste Satz von „Bronsteins Kinder“, Jurek Beckers Roman über Trauer, Verlust und die Frage, wer über wen richten darf.
Mein Vater starb vor einem Monat, am 7. Oktober 2020, am „Tag der Republik“, dem Nationalfeiertag der DDR.
Er hieß Ingo Bauer und war der lustigste und traurigste Mensch, den ich kannte. Er konnte malen, zeichnen und dichten, jedes Gericht kochen und alles reparieren. Er war groß und breitschultrig. Als ich acht Jahre alt war, wog er mehr als meine Mutter und ich zusammen. Alles Muskeln.
Wenn Papa sich bewegen wollte, setzte er sich aufs Rennrad und fuhr zur Ostsee, trank dort er eine Brause und fuhr wieder zurück. Er konnte eine Toastbrotscheibe mit einem Bissen vertilgen. Er war ein Komiker. „Don’t worry, take Gysi!“, witzelte Ingo 1990, noch bevor der Spruch die Wahlplakate der PDS zierte. Geld verdiente er damit nie. Er konnte seine Begabungen nicht ernst nehmen.
Die verhasste SED
1958 in Berlin-Kaulsdorf geboren, durfte Ingo als Sohn eines Pfarrers und einer Ärztin in der DDR nicht studieren. Er entwickelte einen ausgeprägten Hang zur Provokation, ließ sich die Haare lang wachsen und nähte sich eine Stones-Zunge auf den Parka. Er hielt sich für intelligenter als alle seine Lehrer. Ingo lernte Psychiatriepfleger im Krankenhaus Herzberge, ein Knochenjob.
Später ging er in die Kulturarbeit, begann zu studieren und wurde Leiter des Kreiskulturhauses „Peter Edel“ in Weißensee. Dafür musste er noch 1987 in die Partei eintreten, die verhasste SED. An dem Abend brachte die Polizei ihn nach Hause. Er war so betrunken, dass er einfach im Schnee liegen geblieben wäre.
Die Neunziger wurden seine Zeit. Als Leiter des nun Kulturhaus genannten „Peter Edel“ zog er eine Konzertreihe auf, die weit über die schlammigen Ufer des Weißen Sees hinaus bekannt werden sollte: die Reihe „Edel Jazz“.
Uschi Brüning und Luten Petrowski, Conny Bauer und Joe Sachse, Julie Driscoll und Keith Tippet, die großen Namen der improvisierten Musik, spielten bei ihm, ließen die Klänge kollidieren und erschufen jeden Mittwoch ein musikalisches Unikat, das Papa auf DAT-Kassetten speicherte, die er zu Hause in seinem Zimmer mit Kopfhörern nachhörte. So laut, dass ich am Schreibtisch in meinem Kinderzimmer auf der anderen Seite der verschlossenen Durchgangstür brüllte: „Mann, Papa, mach das Türenquietschen leiser!“
Captain Ingo
Der Edel-Jazz wurde zum Treffpunkt der alternativen Berliner Künstlerszene. Nicht nur Musiker, auch Bildhauer, Maler, Schauspieler trafen sich hier.
Der Maler Achim Niemann schrieb mir: „Wir Edel-Jazz-Fans dachten damals nur im Zeitfenster von einem Mittwochabend zum nächsten. Der Alltag im neuen Teutschland war nicht ohne für unseren naiven, kunst-träumenden, trinkfesten DDR-Künstlerhaufen. Aber mittwochs war Edel Jazz, Gott sei Dank!“
Captain Ingo Bauer steuerte das Edel wie eine zigarettenverqualmte Titanic auf weitem kapitalistisch-schäumendem Ozean. Der Eisberg nahte in Form bürokratischer Realitäten.
Mein Vater konnte seine Idee von sich selbst und der Welt, wie sie sein sollte, nicht mit der Wirklichkeit in Einklang bringen. Er liebte das Edle. Klare Formen, ausgesuchte Stoffe, gute Literatur. Péter Nádas Roman „Parallelgeschichten“ brachte ihn zum Schwärmen. Zeitweise ernährte er sich von Espresso und Zigaretten. Er wollte nichts verpassen.
In Köln arbeitete er wieder als Psychiatriepfleger und gründete eine neue Familie. Er war ein leidenschaftlicher Papa und stolz auf alle seine Kinder.
Ingo Bauer hinterlässt drei Töchter und einen Enkel. Er wurde 61 Jahre alt.
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