Ein Jahr nach dem Hochhausbrand: Grenfell Tower – Asche im Herzen
Die Untersuchung der Katastrophe von Grenfell Tower ist in vollem Gange. Die Zukunft der Überlebenden und der Nachbarschaft ist völlig offen.
Aber was ist die Wahrheit? Pünktlich zum Jahrestag hat ein langer Essay im London Review of Books Furore gemacht. Autor Andrew O’Hagan nimmt darin die konservative Bezirksverwaltung von Kensington and Chelsea vor vielfach geäußerter Kritik in Schutz – aber ignoriert seinerseits die jahrzehntelange Marginalisierung Nordkensingtons, die althergebrachte Verachtung gegenüber den Bewohnern des Stadtviertels, in dem der Grenfell Tower steht. Der TV-Sender Channel 4 will E-Mails des ehemaligen Bezirksverwaltungschefs Nick Paget-Brown gesehen haben, in denen er sich nach dem Inferno über den Medienshitstorm beschwert und über „Sprachbarrieren, Erziehungsrückstände und fehlendes Verständnis“ bei den Leuten lästert. „Sie, die Bewohner dort, sind wie Gangs“, soll er geschrieben haben.
Der Wettstreit der Interpretationen wird schärfer – weil er auch die Schuldfrage berührt. Opferanwalt Imran Khan forderte in seiner Eröffnungserklärung beim Untersuchungsausschuss, dass die Möglichkeit institutionellen rassistischen Verhaltens der Behörden geprüft werde müsse. Laut Polizei sind die Bezirksverwaltung und ihre Wohnungsverwaltungsgesellschaft KCTMO (Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation) die Einzigen, gegen die derzeit strafrechtliche Vorwürfe erhoben werden. Doch weder diese beiden noch irgendjemand anders meint, für das Inferno direkt verantwortlich zu sein.
Woran lag es?
Lag es an der Außenfassade, über die sich die Flammen hochfraßen? Der Hersteller sagt, er hätte lediglich die Paletten hergestellt und sei nicht für den Einbau verantwortlich gewesen. Lag es am Dämmstoff, der das Feuer weiterleitete? Der Hersteller verweist auf die Verantwortlichen des Baudesigns, wie Studio E und die Baufirma Rydon. Die wurden von der KCTMO beauftragt. KCTMO macht angeheuerte Experten und Subunternehmer verantwortlich, da sie selbst nicht das Fachwissen zu Außenfassaden hatte, und für Sicherheit sei die Verwaltung zuständig.
Lag es an der möglicherweise mangelhaften Abnahme bei der Brandschutzprüfung des renovierten Gebäudes? Die vertraglichen Prüfer ließen wissen, nicht für die Außenfassaden zuständig gewesen zu sein, sondern nur für Innenbereiche; und sie hätten gewarnt, dass manche Modifizierungen die Ausbreitung eines Brandes aus einer Wohnung in eine andere erleichtern könnten.
Die laufende Untersuchung bringt ständig neue Skandale zutage. Weder die neun Wohnungstüren noch die Aluminium-Polyethylen-Platten der neuen Außenfassade waren feuerfest. Den Platten fehlte eine Sicherheitsprüfung nach britischem Standard; sie wurden nur nach einem für Gebäude über 18 Meter Höhe eigentlich nicht vorgesehenen niedrigeren EU-Standard geprüft. Das neue Dichtungsmaterial nährte das Feuer ebenso wie die neuen Fensterrahmen aus stark brennbaren Material.
So konnte das durch einen defekten Kühlschrank ausgelöste Feuer in Wohnung 16 in kürzester Zeit die Außenfassade in Brand setzten. Zwischenräume innerhalb der Fassade, eine Fehlkonstruktion, schufen einen Kamineffekt, der das Feuer regelrecht in die Höhe zog. Rauchabsauger funktionierten nicht, giftiger Rauch breitete sich durch das ganze Haus aus, ein Feuerlift war defekt, die Wassertrockenleitung mangelhaft.
Fehler der Feuerwehr?
Handelte dann auch noch die Feuerwehr falsch? Sie riet den Bewohnern stundenlang, das brennende Gebäude nicht zu verlassen. Eine im Untersuchungsausschuss im Zeitraffer gezeigte Videomontage beweist, dass bereits gegen 1 Uhr 30, rund 30 Minuten nach der ersten Brandmeldung um 0 Uhr 54, das Feuer die Dachetage erreicht hatte. Aber erst um 2 Uhr 47 gab es die Order zur Evakuierung des Hauses.
Die Feuerwehr will aber den Einsatz der „tapferen Einsatzkräfte, die schwerwiegende Entscheidungen in Sekundenschnelle treffen mussten“, anerkannt haben und verweist auf fehlende Brandbarrieren, fehlende Alarmsysteme, einen fehlenden Plan für eine Massenevakuierung und weitere Mängel, die jegliche Erfahrung der Einsatzkräfte überschritten hätten. Aber laut Aussagen stand die Notrufdienststelle nicht im Kontakt mit den Einsatzkräften vor Ort. Zu viel Zeit und Personal soll verschwendet worden sein, ein Feuer zu löschen, das sich längst nicht mehr löschen ließ, statt einfach die Menschen zu retten, behaupten die Vertreter der Opfer. Als die verbleibenden Menschen dann doch durch das brennende Gebäude den Weg nach draußen suchten, fehlten größere Sauerstofftanks und Atemgeräte. Im Treppenhaus herumliegende Materialien der Feuerwehr sollen die Flucht erschwert haben, einige Türen zum Treppenhaus wurden von der Feuerwehr nicht geschlossen, was die Rauchentwicklung verschlimmerte.
Eine andere Strategie der Feuerwehr hätte womöglich Menschenleben rettet können – dennoch bleibt die Frage, warum das Hochhaus nicht brandsicher war. Neue Richtlinien für Außenfassaden verlangte schon 2013 die Untersuchung des Brands des Londoner Lakanal-Hochhauses, der im Jahr 2009 unter Grenfell-ähnlichen Umständen sechs Tote forderte. Doch die Empfehlungen wurden nicht umgesetzt. Grenfell-Richter Sir Martin Moore-Bick will nun Empfehlungen schon vor dem für einen Zwischenbericht vorgesehenen Zeitpunkt Anfang nächsten Jahres vorlegen.
43 Haushalte im Hotel
Es gibt auch anderweitig viel zu tun. Noch immer sind 43 Haushalte aus dem Grenfell Hochhaus provisorisch in Hotels untergebracht, obwohl die Bezirksverwaltung wegen des Brands 300 Wohnungen kaufte. Von den 203 Haushalten, die eine neue Bleibe benötigten, sind nach amtlichen Angaben erst 134 in neue Wohnungen gezogen.
Die britische Regierung hat angekündigt, die Entfernung von brennbaren Außenfassaden an 300 Hochhäusern in Großbritannien zu finanzieren. Allerdings werden die Gelder hierfür aus dem nationalen Sozialwohnbauetat kommen, was bedeutet, dass deswegen weniger neue Sozialwohnungen entstehen.
In Nord-Kensington selbst ist das Leben diese Woche gebannt ruhig. Auf dem Portobello-Flohmarkt ist die Gemeinde vollkommen unter sich. In der Gemeinschaftszone unter der Hochstraße Westway pflanzt eine einzelne Volontärin Blumen. Der Hochhausturm selbst ist inzwischen verdeckt, umhüllt mit einer weißen Plane, wie ein 67 Meter langes Leichentuch, auf dem ein grünes Herz steht und die Worte „Grenfell, für immer in unseren Herzen“.
Ein Gemeinschaftszentrum entsteht
Herzen fehlen anderswo. Nord-Kensington ist ein Jahr nach dem Inferno auf der Suche nach sich selbst. Die Vielfalt, Diversität und Offenheit der Gegend gibt es noch, und doch ist sie verletzt. Wo an der Arkade des Westway auf Initiative der Künstlerin Sophie Lodge Herzen angebracht waren, entsteht ein Gemeinschaftszentrum, finanziert vom BBC-Rundfunk – aber gegen den Wunsch lokaler Aktivist*Innen. „BBC Get Out!“ hat jemand auf den Bauzaun geschrieben.
Niles Hailstones, der einen anderen Bereich besetzt hält, erklärt, was abläuft: „Wir mussten uns nehmen, was der afrikanisch-karibischen Gemeinschaft von den Verwaltern des Westway verweigert wurde“, sagt er. Die Westway-Stiftung plant ein kommerzielles Multimillionenprojekt , obwohl sie verpflichtet ist, Räume der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Hailstones ist davon überzeugt, dass rassistische Denkweisen hier mitspielen.
Künstlerin Sophie Lodge hat ihre Herzeninstallation gerade noch retten können. „Wir werden sie bei den Gedenkfeiern anwenden.“ Auf ihrem neuen grünen Herzen im Maxilla Park steht diese Woche jedoch nicht mehr der alte Slogan: „ComeUnity“. Stattdessen das Wort „Remember“ – Erinnere. Mit staatlichen Zuschüssen wird sie bald keine Herzen mehr machen, sondern künstliche tropische Blumen. Ihre ersten Testblumen schmücken die Nachbarschaft von Grenfell.
Am Donnerstag, dem Jahrestag, wird es eine Reihe von Andachten und Erinnerungsfeiern geben, darunter ein christlicher Gottesdienst, ein islamisches Fastenbrechen – es ist Ramadan, genau wie damals, als der Tower brannte – und der inzwischen traditionelle Schweigemarsch am Abend rund um den Tower herum. Landesweit soll in ganz Großbritannien mittags eine Schweigeminute gelten.
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