Ein Jahr Rot-Rot-Grün in Berlin: Das muss man doch mal sagen!
Die Bilanz der Koalition ist durchwachsen. Das liegt auch daran, dass sich SPD, Linke und Grüne in Sachen Marketing und Selbstironie schwertun.
Wer BVG-Busse nutzt, weiß, was Servicewüste heißt. Die Fahrer kultivieren liebevoll ihr Image der Schnodderschnäuzigkeit – ein Begriff, der schlicht mit „unfreundlich“ übersetzt werden müsste. Auch verkehren sie zuweilen in ihrem eigenen Rhythmus: Erst kommt nichts, dann sieben auf einmal. Statt sich mühevoll darauf zu konzentrieren, nur diese Missstände zu beheben, machten die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) vor ein paar Jahren aus der Not eine Tugend. Eine flott-ironische Werbekampagne verwandelte die Schwächen zum Markenkern. Inzwischen hat man das Gefühl, dass die Berliner den BVG-Spruch „Weil wir dich lieben“ glauben. Verrückt, oder?
Vorbild für den feschen Auftritt war die Berliner Stadtreinigung (BSR), die ebenfalls mit einer ungewohnt offensiven Kampagne Sympathien in zuvor ungeahntem Ausmaß erntete. BSR wie BVG sind landeseigene Betriebe, verantwortlich für sie ist der rot-rot-grüne Senat, der am 8. Dezember genau ein Jahr im Amt ist. Ein Blick zurück auf das erste Jahr dieser wahlweise als Experiment oder „Zukunftsprojekt“ gepriesenen Zusammenarbeit – die erste unter SPD-Führung in einem deutschen Bundesland – zeigt, wie viel der Senat von BVG und BSR noch lernen könnte.
Denn natürlich fällt die Bilanz von R2G nicht so aus wie erhofft. Etwa, was die Verwaltung angeht: Die Situation auf den Bürgerämtern ist zwar längst nicht mehr so chaotisch wie 2016, als es Neu-Berlinern unmöglich war, sich anzumelden, und deswegen sogar über die Rechtmäßigkeit der Abgeordnetenhauswahl im Herbst diskutiert wurde. Aber wer heute heiraten will, muss in manchen Bezirken sechs Monate warten und weicht lieber nach Dänemark (!) aus. Ein gefundenes Fressen für viele, auch überregionale Medien. Berlin-Bashing ist weiterhin ein beliebtes journalistisches Sujet.
Natürlich ist der BER weiterhin eine Baustelle; die Berliner stimmten auch deshalb für den Weiterbetrieb des abgerockten innerstädtischen Flughafens Tegel. Eine Klatsche für den Senat, der sich noch mit einem anderen Verkehrsthema schwertut: Das Radgesetz, das den massiven Ausbau der Radwege vorsieht, war eigentlich für Frühjahr 2017 angekündigt. Nun kommt es mindestens ein Jahr später und ist dann ja noch lange nicht umgesetzt.
Pragmatismus mit linkem Touch
In Senatskreisen wird inzwischen zugegeben, dass in den ersten Monaten nach Start von Rot-Rot-Grün zu viel versprochen wurde: weil man sich selbst überschätzt und den Aufwand unterschätzt hatte und die Spannung zwischen den drei Parteien ignorieren wollte. Schließlich hatte die Dauerregierungspartei SPD bei der Wahl 2016 ihr bis dahin schlechtestes Ergebnis einfahren, was immer wieder zu Nickligkeiten vor allem gegenüber der Linken, teils auch den Grünen führte. Rot-Rot-Grün war schnell selbst für wohlgesinnte Senatorinnen und Senatoren nicht mehr das linke „Projekt“, sondern Pragmatismus mit linkem Touch.
Die bundesweit erste rot-rot-grüne Landesregierung unter Führung der SPD ist seit dem 8. Dezember 2016 im Amt. Michael Müller, Regierender Bürgermeister (SPD), sowie seine Stellvertreter Klaus Lederer (Die Linke) und Ramona Pop (Grüne) zogen bereits Anfang der Woche auf einer Pressekonferenz eine positive Bilanz ihrer Arbeit. (dpa)
Doch die Probleme sind nicht nur atmosphärischer Natur. R2G zeigt exemplarisch, wie lange es dauert, bis Veränderungen im machtpolitisch tief verschachtelten politischen System umgesetzt werden können. Wer kurz nach der Wahl vielleicht noch Angst vor einer linken Revoluzzerregierung hatte, kann beruhigt sein. Ein Jahr, vielleicht selbst eine Wahlperiode sind zu kurz für eine politische Kehrtwende, wie sie SPD, Linke und Grüne nach fünf Jahren Agonie unter einer Großen Koalition versprochen hatten.
Die strukturellen Schwierigkeiten beginnen schon ganz banal damit, dass eine Dreierkoalition einen deutlich höheren Abstimmungsbedarf hat als Zweierkonstellationen. Hier muss mehr geredet werden – und das braucht Zeit. Zeit, die oft weder die eigene Klientel noch die Parteien und erst recht nicht die Öffentlichkeit aufbringen. Schließlich steht Berlin unter größerer medialer Beobachtung als alle anderen deutschen Städte.
Geld ausgeben? Echt schwierig
Auch Geld auszugeben ist schwieriger als gedacht. Denn in allen Verwaltungen wurden in den 2000er-Jahren jede Menge Stellen gestrichen. Hier jetzt wieder einzustellen zieht sich. Der Arbeitsmarkt ist leer. Bis eine freie oder neue Stelle im öffentlichen Dienst besetzt ist, dauert es laut Michael Müller neun Monate – im Schnitt! Es fehlen also weiterhin die Menschen, die planen und bauen können: Radwege etwa und die Renovierung von Schulen. Oder die einen ausreichenden Service anbieten können, damit Possen über arbeitsunfähige Ämter gar nicht erst entstehen.
Schließlich ist Berlin mehr als ein Land. Auf kommunaler Ebene der Bezirke werden traditionell gute Teile der Senatspolitik ausgehebelt – absichtlich, teilweise auch aus Personal- und Geldmangel. Die beiden Ebenen streiten um Zuständigkeiten, das bremst viele Veränderungen aus. Meist jene, die die Bürger im Alltag direkt merken.
Schnell passiert in Berlin also wenig. Umso zentraler ist es, die Bürger mitzunehmen. Womit wir bei der Außenwirkung wären, siehe BVG. Oder bei Klaus Wowereit: Der Vorgänger des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (beide SPD) hatte einst den Slogan „arm, aber sexy“ geprägt. Und wofür steht R2G? Ein „Jahrzehnt der Investitionen“ verspricht Müller. Das klingt technisch, abstrakt, weit weg vom Berliner.
Aber wenn es selbst für einen eigentlich hoffnungslosen Fall wie die BVG noch Rettung gibt in Sachen Image, gilt das für R2G erst recht. Wo, wenn nicht in Berlin, können Menschen es nachvollziehen, wenn etwas mal länger dauert?! Wer, wenn nicht Linke, verstehen, dass Menschen nicht unfehlbar sind und sich auch mal streiten?! Nicht jeder Satz im Tagesspiegel ist es wert, sich darüber aufzuregen. Die Umsetzung des Koalitionsvertrags – eines nach wie vor wegweisenden Papiers im doppelten Sinne – braucht halt seine Zeit.
Das heißt nicht, dass Rot-Rot-Grün nichts tun muss außer schön reden. Aber so was Schönes zu sagen wie, dass auch Politiker ihre Wähler lieben, selbst wenn es nicht immer so aussieht: dagegen spricht nichts. Und sicher glaubt es jemand.
Dieser Text ist Teil eines Schwerpunktes in der Printausgabe der taz Berlin vom Wochenende 2./3. Dezember 2017. Darin außerdem: Drei Senatorinnen im taz-Check
Eine frühere Version dieses Textes enthielt einen Fehler. Michael Müller hat ein „Jahrzehnt der Investitionen“ angekündigt, nicht eines der „Innovationen“, wie es ursprünglich hieß. Volksnäher ist dieser Begriff allerdings auch nicht [d. Red.]
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“