Ein Jahr Krieg in Sudan: In die Wüste geschickt
Die wenigsten Menschen schaffen es, vor dem Krieg in Sudan ins Nachbarland Ägypten zu fliehen. Dort sind sie alles andere als willkommen.
E s ist ein Tag im späten Januar, an dem sie in Ägypten ankommen. Um etwa halb 5 Uhr morgens erreichen die drei Frauen – Tochter, Mutter und Großmutter – Aswan. Die nubische Stadt im Süden Ägyptens ist ein beliebtes Reiseziel für Touristen. An diesem Morgen wird sie für die drei Frauen aus Sudan, deren Namen hier nicht genannt werden können, bedrohlich.
Mit Hilfe von Schmugglern sind sie über die Grenze gekommen. Wenn sie jetzt erwischt werden, droht ihnen die Abschiebung. Zurück in den Krieg, den sie nach so vielen Monaten endlich hinter sich lassen konnten.
Zu ihrem Glück sind die Straßen noch leer, auch wenn das Morgengebet schon stattgefunden hat. Im Schutz der Morgendämmerung schaffen sie es zum Haus von Freunden, die ebenfalls aus Sudan stammen. Sie leben schon lange in Ägypten, haben ein Einkommen und einen gültigen Aufenthaltsstatus. Bei ihnen können die drei Frauen nun für ein paar Stunden rasten und sich erholen.
Drei Tage lang waren sie mit den Schmugglern in der Wüste. Drei Tage ohne Essen und Trinken, sagen sie. Außer etwas Wasser, das sie dabei hatten. Von ihren Freunden werden die Frauen herzlich empfangen. Es gibt Tee mit Milch und saubere Kleidung.
13 gefährliche Stunden bis Kairo
Doch lange können sie hier nicht verweilen. Aswan ist kein sicherer Ort für Geflüchtete. Es ist den ägyptischen Behörden bekannt, dass Menschen aus Sudan hier ankommen. Schnell wurde die polizeiliche Überwachung ausgeweitet. Wer kein Visum hat, wird verhaftet und zurückgeschickt.
Um einen Flüchtlingsstatus oder subsidiären Schutz zu erhalten, müssen sich Geflüchtete beim UNHCR registrieren. Die Registrierungsstellen befinden sich allerdings in den Städten Kairo und Alexandria, weit weg im Norden des Landes. Mit dem Bus dauert die Reise von Aswan nach Kairo etwa 13 Stunden. Vor Kontrollen unterwegs gibt es keinen Schutz.
Viele Menschen aus Sudan wurden auf diesem Weg bereits festgenommen und deportiert, denn die Route ist auch den Behörden bekannt und Alternativen gibt es keine. Auf Videos, die in sozialen Medien kursieren, sieht man Lagerhallen mit Hunderten eingesperrten Menschen. Von dort geht die Abschiebung nach Wadi Halfa im Norden Sudans.
Dennoch machen sich immer mehr Menschen auf den gefährlichen Weg durch die Wüste. So wie Sara (Name geändert) und ihre Familie. Sara ist Mitte zwanzig und hat vier jüngere Geschwister. Gemeinsam mit den Eltern lebten sie in einem schönen Haus in Sudans Hauptstadt Khartum. Im April 2023, nur wenige Tage vor dem Kriegsausbruch, beendete Sara ihr Medizinstudium, das sie jahrelang unbeirrt absolviert hatte, trotz Revolution, trotz Militärputsch, trotz all der Krisen, die immer wieder zur Schließung der Universitäten und Schulen führten.
Katastrophale Gesundheitsversorgung
Nach Kriegsausbruch am 15. April 2023 blieb die Familie für einige Wochen zu Hause. Doch immer häufiger kamen Soldaten der aufständischen Miliz RSF, die Khartum zu erobern versuchte, zu ihnen nach Hause, bedrohten und bestahlen sie. Dann kam es zu einem dramatischen Ereignis. „Ein paar Mädchen aus unserer Nachbarschaft sind auf die Straße gegangen, um nach Wasser zu suchen. Die RSF haben sie mitgenommen. Wir haben nie wieder von ihnen gehört“, berichtet Sara.
Die Familie entschloss sich zu fliehen. Alle, bis auf den Vater. Er wollte bleiben und das Zuhause beschützen, für das er sein ganzes Leben gearbeitet hatte. „Einen Monat haben wir nichts von ihm gehört, weil die RSF sein Telefon mitgenommen haben. Sie haben ihm eine Pistole an den Kopf gehalten und ihm gesagt, er soll das Haus verlassen, doch er weigerte sich.“ Saras Augen füllen sich mit Tränen, als sie das erzählt.
Von Khartum floh die Familie zunächst an einen anderen Ort in Sudan, wo damals nicht gekämpft wurde. Tausende Menschen suchten dort Zuflucht. Öffentliche Einrichtungen wurden zu Massenunterkünften. Sara arbeitete ehrenamtlich in einem Krankenhaus. Die Erinnerungen daran sind für sie belastend: viele Menschen mit Kriegsverletzungen; Kinder, die aufgrund von Unterernährung erkrankt waren. „Frauen, die ihre im Krieg verlorenen Söhne und Ehemänner beweinen, und die jetzt medizinische Hilfe benötigen und wir können sie ihnen nicht geben“.
Die medizinische Versorgung ist seit Kriegsbeginn zunehmend katastrophal. Es fehlt an Medikamenten und Operationsmaterialien, auch an Blutkonserven und sogar an sauberem Wasser. „Wir hatten so viele Menschen, die gestorben sind, während wir versucht haben, die notwendigen Medikamente für sie zu besorgen. Und dabei meine ich die einfachsten Medikamente wie Malariamittel oder Dopamin. So viele Tode hätten so einfach verhindert werden können.“
50.000 Menschen auf sich gestellt
Sara beschreibt die Triage, die sie regelmäßig wegen dieses Mangels durchführen mussten. „Wir haben Wiederbelebungsmaßnahmen durchgeführt, nur um überhaupt etwas zu tun. Wir wussten, wir haben keine Sauerstoffmasken oder Intensivstationen, um die Personen danach am Leben zu erhalten.“ Schlaganfälle, Epilepsie, Diabetes – jede schwere Krankheit führte so zum Tod. Das Schlimmste, sagt Sara, sei das Wissen, dass all diese Tode hätten verhindert werden können.
Nachdem sich der Krieg im Dezember ausbreitete, beschloss Saras Familie das Land endgültig zu verlassen. Doch zu diesem Zeitpunkt war die legale Ausreise nach Ägypten für die meisten Menschen schon unmöglich. Das Einreisevisum muss in der Grenzstadt Wadi Halfa beantragt werden. Zwar ist der Vorgang von Seiten der ägyptischen Behörden kostenlos, doch die Visa werden nur begrenzt und nach langer Bearbeitungszeit ausgegeben. Bis zu sechs Monate beträgt die Wartezeit.
In dem Wüstenort haben viele so lange keine Unterkunft, nicht mal Betten gibt es. Selbst organisierte Notfallzentralen versuchen, Abhilfe zu schaffen. Ein Mitglied schätzt, dass sich etwa 50.000 Menschen in Wadi Halfa aufhalten.
Shams, der 2023 knapp vier Monate in Wadi Halfa auf sein Visum wartete, bezeichnet die Situation als „das Schlimmste, das ich jemals gesehen habe“. Er beschreibt eskalierende Streits, Diebstahl, physische und sexualisierte Gewalt als Formen, in der sich die allgemeine Verzweiflung niederschlägt. „Ich habe gesehen, wie eine Frau einfach tot umfiel“, sagt Shams. Die Frau hatte ihre drei Töchter im Krieg verloren. „Es hat ihr das Herz gebrochen.“
Viele verschwinden in Ägypten
Sara, Mitte 20, Medizinerin aus Khartum
So entschied sich Saras Familie, mit Schmugglern über die Grenze zu fliehen. Nach einer neuntägigen Reise durch Sudan kontaktierten sie die Schmuggler in einer grenznahen Kleinstadt. Kurz darauf fand sich Sara mit 17 weiteren Personen auf der Fläche eines Pick-ups wieder. In einer Kolonne aus mehreren Autos machten sie sich auf den Weg durch die Wüste, drei Tage lang. In der Nacht schliefen sie am Straßenrand. „Einmal wurden wir gesehen und mussten alle vom Auto springen und uns in den Bergen verstecken, bis der Fahrer zurückkam.“ Damit hätten sie Glück gehabt, sagt Sara.
In der sudanesischen Gemeinschaft in Ägypten kursieren viele schreckliche Geschichten von Menschen, die auf der Fahrt erkranken und von den Schmugglern zurückgelassen werden, die einfach in der Wüste ausgesetzt werden, weil sie nicht noch mehr Geld zahlen können. Auf Facebook gibt es eine Gruppe, in der Angehörige Verschwundene suchen. Beinahe täglich werden dort Bilder von vermissten Personen hochgeladen, deren letztes Lebenszeichen die Reise nach Ägypten war.
„Es ist illegal, aber was sind unsere Optionen? Wir haben nicht das Privileg, monatelang auf ein Visum zu warten“, sagt Sara. Für etwa 300 US-Dollar pro Person konnten sie so die Grenze nach Ägypten überqueren. Das ist in Sudan sehr viel Geld. Im Vergleich zum legalen Visaprozess jedoch deutlich realistischer.
Wegen der immensen Preise sind die meisten Geflüchteten zumeist Ärzt:innen, Jurist:innen, Universitätsprofessor:innen – Menschen, die in ihrem Land Bildung und Status genossen und die jetzt gezwungen sind, sich auf die gefährliche Flucht mit Menschenhändlern zu begeben.
Rassismus, staatlich verordnet
Was sie in Ägypten erwartet, ist nicht viel besser. Ägypten befindet sich in einer misslichen Lage. Zwischen Libyen, Sudan und Gaza ist es umgeben von Kriegen und Krisenherden. Hinzu kommt die anhaltende Wirtschaftskrise. Die Inflation ist hoch, Lebensmittelpreise steigen rasant, staatlich verordnete Stromabstellungen nehmen zu, formelle Jobs gibt es kaum, erst recht nicht für Geflüchtete. Um zu überleben, arbeiten sie im informellen Sektor: Straßenverkäufe, Restaurant- und Logistikarbeiten, Bergbau.
Die Hürden für gesellschaftliche Teilhabe sind hoch. So können sudanesische Kinder ohne dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Ägypten nicht zur Schule gehen.
Für Sara ist das besonders schwer: Als älteste Tochter ist sie nun für den Lebensunterhalt ihrer Familie zuständig. Als Ärztin darf sie trotz ihrer Praxiserfahrung nicht arbeiten, weil ihr das Anerkennungsjahr fehlt und sie keine beglaubigten Zeugnisse vorweisen kann. Die würden Hunderte von Dollar kosten – Geld, das die Familie nicht hat. So macht sie Gelegenheitsjobs, doch dauerhaft wird das nicht reichen.
Abneigung und rassistische Übergriffe gegenüber Sudanes:innen häufen sich. Viele Ägypter:innen machen die Geflüchteten für die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes verantwortlich. Staatliche Medien wie Radios und Fernsehen verbreiten anti-sudanesische Ressentiments. Ein Gerücht hat sich besonders verbreitet: Dass alle sudanesischen Geflüchteten nach ihrer Registrierung beim UNHCR 400 US-Dollar Begrüßungsgeld erhalten.
UNHCR oder Haft
Ägyptische Aktivistin, die unerkannt bleiben möchte
Dies sorgt allerorten für Unmut: Auf sudanesischer Seite ist es die Enttäuschung darüber, dass es diese Gelder in Wirklichkeit gar nicht gibt. Auf ägyptischer Seite ist es der falsche Glaube, Geflüchtete würden finanziell unterstützt, während Einheimische in der Krise allein gelassen würden.
„Die ägyptische Regierung verbreitet dieses Gerücht ganz gezielt, um Hass zu schüren und von ihrer eigenen Kleptokratie abzulenken“, bestätigt eine ägyptische Aktivistin, die unerkannt bleiben möchte. Die Strategie funktioniert: Sudanes:innen beklagen zunehmend Ausbeutung, Ausgrenzung und sogar verbale und körperliche Angriffe – und Abschiebungen.
Aus Mangel an Alternativen begeben sich viele nach ihrer Abschiebung aus Ägypten nach Sudan jedoch zum zweiten Mal auf die Flucht mit Schleppern. Yassir (Name geändert) schaffte es in einer monatelangen Odyssee bis nach Kairo, bevor er verhaftet wurde. Er kam in ein Gefängnis im südägyptischen Aswan, wo er mit 90 anderen Personen für 10 Tage festgehalten wurde. Seine Fingerabdrücke wurden genommen, man drohte ihm mit fünf Jahren Haft, sollte er nach der Deportation je wieder zurückkommen.
Man habe ihm aber auch angeboten, 700 US Dollar zu zahlen und dafür freizukommen. Dieses Geld hatte er nicht, so wurde er abgeschoben. Zurück in Sudan, machte er sich erneut auf den Weg und schaffte es wieder bis nach Kairo. Doch auf seinen Termin beim UNHCR muss er noch Monate warten. In dieser Zeit traut er sich nicht aus dem Haus, aus Angst, wieder verhaftet zu werden.
Traumata, Angst und Depressionen
Die Wartezeit für eine Registrierung beim UNHCR dauert aktuell mehrere Monate. Dann bekommt man eine „gelbe Karte“, gültig für 18 Monate. Diese Karte ist eine legale Aufenthaltserlaubnis. Damit ist man vor Abschiebung sicher. Sie ist sehr begehrt, das machen sich andere zu nutzen: Gegen Bezahlung von bis zu 200 Euro, ein Vermögen, vermitteln Personen Termine mit dem UNHCR.
Laut UNHCR kommen täglich 2000 bis 3000 Geflüchtete in Kairo und Alexandria an. International gibt es kaum Geld für sudanesische Geflüchtete, aber im jüngst geschlossenen Migrationsdeal zwischen Ägypten und der EU erhält der ägyptische Diktator 7,4 Milliarden Euro. Dafür soll er die Migration nach Europa eindämmen. Das trifft auch Geflüchtete aus Sudan.
Die fehlende Unterstützung zwingt Sudanes:innen zurück in die Selbsthilfe. Wie auch schon im Krieg in der Heimat gründen sie zivile Gruppen, teilen Ressourcen und Informationen. Doch traumatische Erlebnisse, fehlende Perspektiven und der endlose Kampf ums Überleben schlagen sich psychisch nieder. In Gesprächen klagen viele über Depressionen, Angstzustände und Niedergeschlagenheit. Es gibt Geschichten über Suizide.
„Ich fühle mich alt“, sagt Sara: „obwohl ich so jung bin.“ Sie reflektiert: „Die Menschen entwickeln verschiedene Bewältigungsstrategien, aber viele davon sind ungesund. Wir sind traumatisiert als Nation.“
Die drei Frauen aus Aswan haben es am Ende nach Kairo geschafft. Die Flucht hat der Großmutter aber sehr zugesetzt. Ob sie gesundheitlich durchkommt, ist ungewiss. Ob Yassir in Ägypten Sicherheit finden konnte, ist nicht klar. Der Kontakt zu ihm brach ab.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste