Ein Jahr Grünenchefs Habeck/Baerbock: Das unterschiedliche Traumpaar
Seit einem Jahr sind die beiden Grünen-Chefs Robert Habeck und Annalena Baerbock im Amt. Eine Analyse in fünf Punkten.
Vertrauen
Zu zweit ein Büro beziehen, die Schreibtische aneinanderrücken, einen einzigen Büroleiter für beide einstellen. Habeck und Baerbock verstanden es anfangs, eine klare Botschaft zu senden: Ab jetzt kämpfen wir gemeinsam! Bis heute klappt das gut. Sie stimmen sich eng ab, halten täglich Kontakt über den Messengerdienst WhatsApp und andere Kanäle und sind sich über die großen Linien einig: Beide wollen anders kommunizieren, weniger Stanzen, weniger Floskeln nutzen. Dem Gegner auch mal recht geben, ihn nicht persönlich angreifen. Die ganze Gesellschaft ansprechen, nicht nur die urgrüne Kernklientel.
Zwei Grünen-ChefInnen, die sich inhaltlich, politisch und intellektuell unterstützen – das ist in der Tat neu. Meist lief es anders. Als Cem Özdemir und Simone Peter die Grünen führten, herrschte vor allem Misstrauen. Zwei verfeindete Teams arbeiteten in der Geschäftsstelle gegeneinander. Der Realo nutzte seine Prominenz, um seine linke Co-Chefin an die Wand zu spielen. Beide bedienten Interessen „ihres“ Parteiflügels, statt sich aufs große Ganze zu konzentrieren.
In Strukturen gegossene Missgunst war in der Grünen-Geschichte übrigens eher die Regel denn die Ausnahme, auch vor dem Duo infernale Özdemir/ Peter. Es ist legendär, dass 2007 eine Grünen-Führungscrew um die Vorsitzenden Claudia Roth und Reinhard Bütikofer unter dem Spitznamen „Pentagramm des Grauens“ firmierte.
Augenhöhe
Habeck hat Regierungserfahrung als Minister in Schleswig-Holstein gesammelt, er steht in Beliebtheitsrankings weiter vorne als Baerbock und wird öfter von den Medien für die großen Welterklärer-Interviews angefragt. Doch Baerbock hat wahrgemacht, was sie in ihrer Bewerbungsrede angekündigt hatte – bloß nicht „die Frau an Roberts Seite“ sein zu wollen.
Ob es nun um Talkshow-Auftritte, Podiumsdiskussionen oder den Respekt geht, der ihr in der Partei entgegengebracht wird: Baerbock hat sich Gewicht und Standing erarbeitet, obwohl sie anfangs weniger prominent war als ihr Co-Chef.
Sichtbar wird auch das im Kleinen, etwa bei der Vorstandsklausur in Frankfurt (Oder) vor gut zwei Wochen. Habeck hat müde Augen bei der Abschlusspressekonferenz, er spricht leiser als sonst. Die Debatte über seinen Thüringen-Patzer und den Twitter-Ausstieg tobt, sie nimmt ihn sichtlich mit. Das Spitzenduo stellt ein Papier für die ostdeutschen Wahlen vor, in dem die Grünen unter anderem einen Wagniskapital-Kredit von 25.000 Euro für Jungunternehmer vorschlagen.
Ein Journalist fragt skeptisch, ob den Kredit eigentlich auch reiche Erben nutzen könnten, die ihn eigentlich nicht nötig hätten? Habeck holt aus, verfranst sich, bejaht am Ende. Baerbock hakt ein, obwohl Habeck angesprochen war. Solche Mikrokredite seien bereits erprobt, in Brandenburg zum Beispiel. Und sie hätten nicht dazu geführt, dass Vermögende sie genutzt hätten. Zack, nächste Frage, bitte.
Der Mann gibt immer den Ton an? Nö. Über Waffengleichheit muss man sich bei dem Grünen-Duo schon lange keine Sorgen mehr machen.
Diversität
Eine gute Doppelspitze funktioniert, wenn sie Unterschiedlichkeit als Vorteil begreift. Das ist bei Habeck und Baerbock der Fall. Sie ziehen an einem Strang, sind aber komplett unterschiedliche Typen. Habeck, Philosophiestudium, Dr. phil., im früheren Leben Schriftsteller, ist impulsiv, er lädt Politik emotional auf und ist in der Lage, über jedes Thema eine nachdenklich klingende Metaebene zu wölben. In einer nach Erzählungen gierenden Medienlandschaft ist das eine nicht zu unterschätzende Stärke. Ein Robert Habeck macht keine einfache Sommerreise wie, sagen wir, Andrea Nahles es tut. Er rettet mit linksliberalem Patriotismus die Werte der Republik, mindestens.
Baerbock, studierte Völkerrechtlerin, argumentiert nüchterner, oft auch detailverliebter. Wenn Habeck mit einer These vorpreschen will, liest sie lieber noch ein paar Gesetze oder telefoniert mit Fachpolitikern. Das klingt nicht so gut, ist aber oft sinnvoll. Im Idealfall ergänzt sich beides.
Auch im Temperament unterscheiden sich beide. Habeck, der Mann, wirkt manchmal wie die Dramaqueen im Spitzenduo, ohne Inszenierung, ohne große Geste geht es bei ihm nicht. Baerbock tickt bodenständiger, vorsichtiger ist sie auch. Wegen eines simplen Versprechers bei Twitter aussteigen? Da käme Baerbock nicht mal nach fünf schlaflosen Nächten drauf.
Stringenz
Habeck und Baerbock zeichnen von sich das schöne Bild, mutig, offensiv und klar zu sein. Was stimmt, ist, dass sie Zuspitzungen wagen, die die Grünen lange vermieden. Habeck und Baerbock werben offensiv für eine Plastik-Steuer oder für eine sanktionsfreie Grundsicherung, die Hartz IV ablösen soll. Diese Ideen sind keineswegs neu und teils seit Jahren Beschlusslage der Grünen. Sie spielten nur in der öffentlichen Kommunikation keine Rolle, weil Spitzengrüne Angst hatten, bei Konservativen anzuecken.
So bleiben die Grünen für enttäuschte SPD-WählerInnen und linksgrüne Ökos attraktiv. Aber Habeck setzt auch wohl dosierte Signale, um moderne Konservative anzusprechen. Unter ihnen präsentieren sich die Grünen, deren Fans früher gegen den bösen Bullenstaat kämpften, als Rechtsstaatsverteidiger, die mehr Richter und Polizisten fordern – und die Nationalhymne preisen.
Dennoch sollte man nicht allen grünen Werbeclaims trauen. Ihre Grundsicherung kostet grob geschätzt 30 Milliarden Euro im Jahr. Doch wenn es ums nötige Geld geht, flüchten sich auch Habeck und Baerbock in Plattitüden – aus Angst vor einer Steuererhöhungsdebatte. Die Grünen brandmarken im Bund die Flüchtlingspolitik der CSU, hätten mit ihr in Bayern aber liebend gern koaliert. Oder sie geißeln die dieselverliebte Autoindustrie, während der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann den Daimler schützt, wo er kann.
Die Grünen von heute kommen ohne Widersprüche nicht aus. Die Medien lassen ihnen solche Ungereimtheiten noch durchgehen – auch wegen der Strahlkraft der Doppelspitze.
Macht
Lange gab bei den Grünen die Bundestagsfraktion den Ton an. Deren Vorsitzende hatten die Bühne des Parlaments, mehr MitarbeiterInnen, mehr Aufmerksamkeit. Der Bundesvorstand wurde intern als „die arme Verwandtschaft vom Platz vor dem Neuen Tor“ verspottet. Habeck und Baerbock haben diese Aufteilung auf den Kopf gestellt. Heute kommen aus dem Vorstand die wichtigen Impulse.
Ein Beispiel: Es war bei den Grünen eine jahrelang gepflegte Tradition, dass die Fraktion zum Jahresbeginn nach Weimar zur Klausurtagung einlud. Sie setzte so die Themen fürs Jahr. Dieses Jahr lud der Vorstand nach Frankfurt (Oder) ein. Habeck und Baerbock bekamen die Zeitungsseiten und Fernsehberichte für ihre Botschaften.
Die neue Macht der Vorsitzenden hat einen absurden Effekt. Habeck und Baerbock betonen bei jeder Gelegenheit, dass die Grünen mehr Streit wagen müssten. Doch öffentlicher Widerspruch ist selten geworden, die Partei wirkt wie sediert. „Angesichts des Höhenfluges möchte keiner in die Suppe spucken“, sagt ein gut vernetzter Linksgrüner.
Vor Weihnachten forderte Baerbock in einem gezielt platzierten Interview, straffällige Asylbewerber bei Abschiebungen vorzuziehen. Man hätte trefflich darüber streiten können, ob solche Botschaften den Grünen nutzen. Doch als eine Journalistin Bundestagsabgeordnete und andere Grüne danach um kritische Stellungnahmen bat, passierte etwas Lustiges.
Angesprochene informierten umgehend Baerbock und die Pressestelle – und hielten selbst lieber den Mund. Selbstverständlich sind alle Grünen souveräne, eigenständige Köpfe, die total Bock auf klugen Streit haben. Aber vorher fragen sie lieber die Chefin um Erlaubnis.
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