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Ein Jahr Chemnitzer AusschreitungenDebatte ohne Migranten

Ost und West sind in Paartherapie – das merkt man gerade wieder beim Thema Chemnitz. Nur Migranten sind nach wie vor nicht eingeladen, sich zu äußern.

Wie geschlossen ist der Kreis derer, die in Deutschland den Diskurs bestimmen Foto: dpa

Seit Monaten sitzt die Republik mal wieder gemeinsam auf der Couch: Deutschland Ost und Deutschland West sind in Paartherapie. Nach dreißig Jahren fühlt es sich an wie eine Zwangsehe. Symptom des Auseinanderlebens: Die Ostdeutschen wollen einfach nicht so wählen, wie es den Westdeutschen gefällt.

Außer dem Paar selbst interessiert sich kaum einer für das Thema. Die Migranten im Land nicht, die Weltgemeinschaft nicht. Aber die Ost- und Westdeutschen wühlen unbeirrt in ihren Kränkungen. „Aufarbeiten“ heißt so ein Verhalten hierzulande. Ein Spiegel-Titel mit „So isser, der Ossi“ ist da schon die nächste Re-Traumatisierung. „Geht gar nicht“, wie es hier zu so vielem heißt.

Für so manchen Migranten wäre ein Spiegel-Titel, der sich seitenlang mit ihrer „Identität“ befassen will, eine Freude. Den Anspruch, Migrantenklischees hinter sich zu lassen, haben die meisten nicht mehr. Man ist schon froh, wenn man nicht als kriminell oder bildungsbehindert dargestellt wird. Mehr Analyse ist nicht.

Die Ost- und Westdeutschen hingegen porträtieren sich gegenseitig zu Tode. Wechselwähler im Osten? Nein, so was? Bitte sofort den Reporter schicken! Alle sprechen von schwacher Infrastruktur im Osten.

Jahrzehnte von fremden Hintern abgesessen

Ich bin mein ganzes deutsches Leben lang nicht in so modernen Bahnen gesessen wie in Leipzig, Dresden und Weimar. Im Westen fahren diese verbrauchten Dinger, in denen man im Sommer freiwillig steht, weil die Sitzpolster abgesessen sind von Jahrzehnten fremder Hintern. Es ist nicht alles zurückgeblieben im Osten. So wie es im Westen Infrastrukturhöllen gibt.

Unsäglich wurde die Paartherapie Ost und West allerdings erst diese Woche, Rund um das Thema Chemnitz. Endlich liegen Beweise vor: Rechtsextreme verabredeten sich in Chats, um Migranten zu „jagen“. Man höre und staune: Weder andere Ossis, noch andere Wessis wollten sie jagen, sondern jene, die Rechtsextreme nun einmal als Ausländer bezeichnen, weil sie nicht aussehen, wie Rechtsextreme sich Deutsche vorstellen.

Erst ein Jahr später liegen die Chats vor. Warum? Ist das bei all dem Überwachungsspielraum, den sich Sicherheitsbehörden inzwischen erkämpft haben, hinnehmbar? Einschlägig bekannte Rechtsextreme verabreden sich zum „boxen“ von „Kanacken“, und die Öffentlichkeit wartet ein Jahr auf Beweise?

Jetzt müsste es Interviews, Reportagen und Titelseiten mit People of Color geben, die gefragt werden: Wie lebt ihr in diesem euren Land, in dem ihr trotz NSU und der gelobten Besserung noch immer nicht sicher auf die Straße könnt? Gleich, ob Ost oder West – der NSU tötete auch in Nürnberg und Köln.

Doch was geschieht? Man diskutiert, ob „Jagd“ wirklich „Hetzjagd“ meint. Befragt werden linksliberale Deutsche (die natürlich „Hetzjagd“ sagen) und rechtsnationale Deutsche (die natürlich „Jagd“ sagen).

Nur einer wird wieder nicht befragt, als gäbe es eine Art Gesetz, das lautet: Betroffene befragt man nicht, wenn sie Teil einer migrantischen Minderheit sind. Vielfalt gefährdet schließlich den Zusammenhalt. Kein Witz.

In Deutschland ist Ignoranz Alltag

In Deutschland braucht der brennende Amazonas zwei Wochen, um wahrgenommen zu werden. Verhandlungen über das Bauen von Atombomben im Iran gehen so gut wie unter; Ignoranz ist Alltag, vor allem für internationale Themen. Lieber wird krampfhaft über Identität, Kultur und Zusammenhalt diskutiert. Und doch leistet man sich gerade im Inland blinde Flecken dieses Ausmaßes. Die Zukunft ist mit Debatten über Ost und West allein nicht zu gestalten.

Das „deutsche Wir“ von heute und morgen ist keines zwischen Ost und West, Linksliberalen und Rechtsnationalen.

Migrant*innen sind nicht stumme Opfer. Sie sind nicht Objekte, über die sich linke oder der rechte Deutsche ohne Migrationshintergrund profilieren können. Linksliberale sprechen wohlmeinend für Minderheiten, aber als Teil einer bürgerlichen Elite, die – wenn man ehrlich ist – selten auf Augenhöhe mit Migranten verkehrt. Rechtsnationale missbrauchen derweil die Eingewanderten, um sich als Retter „des Volkes“ zu inszenieren.

Beide versagen gleichermaßen, weil sie nach wie vor so tun, als wären sie „das Volk“.

Ost und West sollten jetzt mal ihre Paartherapie beenden und sich der Gegenwart widmen. Sie beißt nicht. Migranten beißen auch nicht. Während das alte deutsche Paar selbsttrunken analysiert, stopfen wieder einmal zig Einwanderer die schlecht bezahlten Löcher auf dem deutschen Arbeitsmarkt – nur hören und lesen tut man von ihnen fast nichts.

Jagoda Marinić ist als @jagodamarinic bei Twitter unterwegs

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6 Kommentare

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  • So unterschiedlich ist die Wahrnehmung.

    Ich lese am laufenden Bande Artikel über Migranten und deren Identitäten, von Migranten, über Schwarzsein in Deutschland, Schwarzsein auf der Welt, People of Colour, Muslime, Flüchtlingsdasein, ...

    Das ist keine Kritik, manche davon finde ich wirklich interessant.

    Nur gelingt es mir nicht, die Analyse der Autorin nachzuvollziehen.

    Über Ostler und ihre Sichtweisen habe ich dagegen lange nicht gelesen. Das kommt erst jetzt wieder hoch, wo die Wahlerfolge der AfD nicht mehr zu übersehen sind.

  • Würde sich „außer dem Paar selbst [...] kaum einer für das Thema“ dieser „Paartherapie“ interessieren, wäre das gut, finde ich. Ist leider nicht so.

    Nicht nur der Spiegel fühlt sich zum (Paar-)Therapeuten berufen. Auch andere brauchen dringend Geld. Wer ein Talent hat zum Manipulator, der kann nicht nur Frieden stiften, sondern auch Krieg. Und je länger ein Streit dauert, um so mehr lässt sich daran verdienen.

    Aber auch andere sind interessiert. Jagoda Marinic etwa. Nur fühlt die sich offenbar nicht kompetent. Eher wie ein Kind, das Angst hat und nicht so recht weiß: Hin- oder weggucken? Sie fühlt sich wohl zu wenig wahrgenommen in ihren eigenen Bedürfnissen. Auch fürchtet sie, dass sie entscheiden muss, bei wem sie nach der (möglichen) Trennung leben will.

    Stimmt, das deutsch-deutsche „Paar“ hat bisher keinen Mediator gefunden, der seinen Streit gütlich beendet hätte. Ist das ein Problem? Kann man die Zwangsvermählten unter uns nicht schlichtweg ignorieren, sein eigenes Ding machen während sie einander sinnlos vergangene Fehler vorwerfen? Ist man nicht eigentlich lange erwachsen – und keine erwachsene Heuschrecke?

    Es ist das Eine, wenn sich die Welt für Deutschlands Dreckwäsche nicht interessiert. Etwas ganz anderes, sehr viel riskanteres ist es, wenn Deutschland sich nicht für die Welt interessiert. Es gibt vielleicht Wichtigeres, als die Klärung diversen Versäumnisse mitzuverfolgen. Für Ossis, für Wessis, für den Spiegel und womöglich sogar für Migranten.

    Übrigens: Migranten sind auch Menschen. Als solche aber sollten sie Wert auf ihre Individualität legen. Alle Ungarn, Briten, Kameruner, Hongkonger und Nicaraguaner kurzerhand in einen (möglichst großen) Topf zu werfen, hilft niemandem. Außer denen natürlich, die nach einem Grund suchen, „Stunk“ zu entfachen.

    Ich, jedenfalls, will (immer noch) viel. Ich will ALLE Klischees hinter mir lassen. Weil ich nur unter Individuen Individuum sein kann. Nein, leicht wird das nicht. Wer möchte gern mitmachen?

  • Vielen Dank für den Artikel, der glaube ich für viele Migranten bedeutsam ist.

    2013 war ich für eine Reha 6 Wochen in Chemnitz und wurde vorher von Freunden, die in der Region aufgewachsen sind, gewarnt angesichts meiner Hautfarbe. Zu meiner Freude hatte ich keinerlei Probleme und fühlte mich dort gut aufgehoben.



    Erschreckend, wie schnell sich die Stimmung seitdem verändert hat.



    Neulich habe ich in meinem jetzigen Wohnort im "Westen" eine ernüchternde Erfahrung gemacht, die ich mir nicht hätte träumen lassen. In einer überwiegend linken Gruppe wurde ich rassistisch angegriffen. Damit habe ich nicht gerechnet. Aber eine Relativierung hierzu: Das ist wahrscheinlich auf der ganzen Welt so.



    Mein Fazit: es kann sich alles ganz schnell ändern, und ich habe keine Ahnung, woran das liegt.

  • Ich finde den Spiegel-Artikel differenziert und lesenswert. Und ich werde dadurch in keinster Weise re-traumatisiert.

  • Als Migrant*innen adressierte Menschen werden wie unmündige Kinder aus der Gestaltung der bundesdeutschen Familienrealität herausgehalten. Und eine Auseinandersetzung über die gesellschaftlichen Strukturen (des strukturellen Rassismus) unterbleibt völlig.



    Genau so ist das! Vielen Dank für die schneidende Analyse.

  • Das ist keine Paartherapie, das ist leider eine komplette Fehleinschätzung der Autorin.

    Paare, also zumindest meine Freundinnen, waren immer Personen die "gleich stark", ansonsten wäre ich auch nicht interessiert.

    Aber der Osten ist viel schwächer und er wird immer schwächer, das ist komplett anders.