Ein Jahr Ausnahmezustand in Frankreich: Die getrübte Leichtigkeit des Seins
Am 13. November 2015 töten Islamisten 130 Menschen in Paris. Wie haben die Anschläge das Leben verändert? Ein Jahr danach.
Zunächst war da die Stille. Während der Fahndung nach den Tätern riet die Regierung den Parisern zunächst, ihre Häuser nicht zu verlassen. Die Straßen waren leer. Kein Autolärm, kein typisch pariserisches Motorhupen. Die paar Menschen, die sich auf die Straßen wagten, huschten schnell wie Geister vorüber. Die Stadt schien gelähmt. Nur ein Geräusch war unaufhörlich zu hören: Sirenen, Tag und Nacht. Tage später strömten die Menschen auf die Straßen, besetzten allmählich wieder die Cafés und Restaurants. Der Alltag war wieder da. Aber etwas war anders.
Soldaten mit Maschinenpistolen in der Hand patrouillieren durch die Straßen von Paris. Sie stehen in Gruppen vor Behörden und Sehenswürdigkeiten, gelegentlich vor Schulen zu Öffnungs- und Schließzeiten. An den Toren öffentlicher Gebäude hängt ein weißes Blatt mit einem roten Dreieck. Darunter steht: „Alerte Attentat.“ Terroralarm.
„Es gibt eine reelle Angst. Wir sind alle vorsichtiger. Wir wissen heute, dass wir Zielscheibe sein können“, sagt der Hochschuldozent und Buchautor Jean-Baptiste Guégan. Er beobachtet seit den Attentaten auf Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 und den November-Anschlägen eine Veränderung im Sozialverhalten der Menschen. Er nennt es eine „gesteigerte Feinnervigkeit und Erregbarkeit“. In den Metros würden sich die Menschen genauer taxieren.
Abschied von Amerika. Unsere Autorin hat die Präsidentschaft Obamas als Korrespondentin begleitet. Jetzt war sie dabei, als sein Nachfolger gewählt wurde. Was sich im Land verändert hat und wie es nun weitergeht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. November 2016. Außerdem: Der ARD-„Tatort“ erlebt seine 1.000 Aufführung. Warum ist er so erfolgreich? Und: Wenn der Feminismus „cool“ wird. Unterwegs mit drei Expertinnen. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Noch in der Nacht zum 14. November 2015, als in Paris die Attentäter noch wüteten, verkündet der französische Präsident François Hollande, alle Grenzen Frankreichs zu schließen, und verhängt den Ausnahmezustand. Er bezeichnete die Anschläge als einen Akt des „Krieges“, eine Wortwahl, die bis heute vielen aufstößt. Auch der Ausnahmezustand, der bis Januar 2017 verlängert wurde, wird scharf kritisiert. Ein Leitartikel der Zeitschrift Esprit formulierte pointiert: „Auf dem Weg zu einem permanenten Ausnahmezustand? Frankreich in der Falle“ und fordert: „Wir erwarten eine andere politische Parole als eine, die die Demokratie schwächt, in der das Sicherheitsgefälle gegen den permanenten Ausnahmezustand eingelöst wird.“
Auch die Sängerin Chrystelle Nammour sieht den Ausnahmezustand als zweischneidiges Schwert: „Das Klima, welches einem durch den Ausnahmezustand aufoktroyiert wurde, beruhigt die Bevölkerung zum einen. Sie erinnert uns aber auch ständig an den Horror, den wir erlebt haben.“ Die 28 Jahre alte Musikerin hat wenige Tage nach den Anschlägen im November vergangenen Jahres einen Song geschrieben mit dem Titel „Paris se relève“ (Paris erhebt sich). Der Song ist auf YouTube zu finden. Nammour hat ihn den Opfern der Attentate gewidmet.
Gewandeltes Verständnis
Die Französin mit libanesischen Wurzeln beobachtet, dass vor allem die extreme Rechte in Frankreich seitdem auf dem Vormarsch sei. Nationalistische Sprüche, die darauf ausgerichtet seien, die Angst vor dem Fremden zu schüren. Ähnlich sieht es auch der Études-Chefredakteur Euvé François, der in einem Aufsatz schreibt: „Diese Gemeinschaft ist fragil. Wir erleben die Rückkehr rassistischer Ausdrücke.“ Die Sängerin Nammour beobachtet allerdings, dass damit eine „stärkere Solidarität“ gegenüber dem rechten Block einhergehe. „Die Menschen trauen sich viel mehr, Rassismus und Xenophobie anzuprangern, wenn sie Zeugen sind“, konstatiert Nammour.
„Die Wahrnehmung von Gewalt hat sich gewandelt“, stellt die Psychologin Viviana Dore fest. „Sie ist heute verankert als ein Element des Möglichen im Leben. Die vielen Anschlägen in anderen Ländern und die Attentate vom 14. Juli in Nizza haben eine andere Perspektive auf die Beziehung zum Anderen offenbart.“ Dore, die seit den Pariser Anschlägen auch Betroffene in Therapie hat, beobachtet, dass viele Menschen ihre Fassungslosigkeit über die Ereignisse in Worte fassen wollen.
So hat Guégan gemeinsam mit zwei Freunden ein Buch geschrieben, Titel „Sortir du Bataclan“ (Den Bataclan hinter sich lassen). Sein Freund Charles Nadaud war am 13. November 2015 im Bataclan und hat das Attentat überlebt. Im Buch beschreibt er detailliert, wie die Minuten während des Anschlags in dem Konzertsaal abliefen, die Rettung der Opfer, und wie für ihn die Stunden, Tage und Monate danach waren.
„Ich fühle mich anders und verschoben von der Welt, die mich umgibt“, schreibt Nadaud. Anstatt in der Opferrolle zu verharren, hat er mithilfe von Familie, Freunden und einer Therapie sein Leben wieder in die Hand genommen und ist, wie er es beschreibt, wieder zum „Akteur geworden“.
„Paris – ein Fest für das Leben“
Genau diese Haltung bewundert die Psychotherapeutin Dore. „Die Einstellung der Pariser ist es zu leben. Das ist bemerkenswert. Die Orte einnehmen, an denen die Attentate verübt wurden, ausgehen und mit Leben füllen“, so die Psychologin. „Fern von jeder Resignation zeigen die Pariser einen Willen, der sich nicht der Angst unterordnet, auch wenn sie diese empfinden, zeigen sie eine starke Widerstandsfähigkeit.“
Auch die 78 Jahre alte Danielle Mérian wollte sich nicht der Angst verschreiben, sondern ging am 14. November 2015 zum Bataclan und legte Blumen auf die Straße. Sie, eine Pariserin, wurde von einem Reporter gefragt, warum sie gekommen sei. Und da fiel ihr Ernest Hemingways Spruch ein: „Paris – ein Fest für das Leben“ (Paris est une fête). Hemingways Satz über seine Pariser Zeit in den 1920er Jahren wurde zur Devise. Das Rathaus übernahm die berühmte Phrase, um dem Negativsog der Attentate etwas entgegenzusetzen. Denn die französischen und ausländischen Touristen blieben der Stadt zunächst spürbar fern.
Der 37-jährige Guégan sitzt in einem Café des 17. Arrondissements von Paris. „Es gibt nicht mehr die gleiche Naivität wie früher“, meint er. Die Welt würde man anders betrachten, es gebe ein höheres Bedürfnis nach Erklärungen. Als Dozent für Geschichte und Geografie erlebe er, dass seine Studenten ihn mit Fragen löchern. Guégan sieht nicht, dass Paris bald wieder so unbeschwert werde wie zuvor. Schließlich habe auch der 11. September 2001 die Vereinigten Staaten und New York nachhaltig verändert. Die Erinnerungen an die Anschläge seien frisch. „Sie sind ein Teil unserer Gegenwart geworden.“ Und gleichzeitig weiß er, dass man nach vorne blicken muss, eben weil sein Freund seine Leidensgeschichte mit ihm geteilt hat. „Der Terrorismus hat keine Chance, wenn die Gesellschaft einen Block bildet.“
Die Realität vor der Stadtgrenze
Die Einheit der Gesellschaft ist jedoch ein Streitpunkt. Frankreich ist ein Land, in dem die Integration vieler muslimischer Jugendlicher prekär bleibt. Zwei Aspekte traten mit den Anschlägen in den Vordergrund. Erstens richtete sich das Augenmerk auf die Banlieues, die einige Attentäter hervorgebracht hatten. Denn die Pariser in ihrem schillernden Kleinod ignorieren gern diese andere Realität vor ihren Stadtgrenzen. Und zweitens wurde ein Gefühl des Sich-in-Sicherheit-Wähnens in Europa zerschmettert. Bis dato schienen Attentate wie die vom 13. November auf andere Teile dieser Welt beschränkt. Plötzlich aber war diese Variante des wahllosen Terrorismus mit den Pariser Anschlägen auch in Europa angekommen. „Der islamistische Terrorismus hat dazu geführt, dass das politische und soziale Modell unserer Republik infrage gestellt wird“, konstatiert Autor Nadaud. „Die terroristischen Attentate haben die Republik geschwächt und ihre Brüche offenbart.“
Heute ist ein grauer Novembertag 2016. Die Fußball-Europameisterschaft im Sommer war zwischenzeitlich geglückt. Aber bei dem Anschlag am Nationalfeiertag vom 14. Juli an der Strandpromenade in Nizza wurden 80 Menschen überfahren und mehr als 300 verletzt. Am 26. Juli ermordeten IS-Anhänger den Priester Jacques Hamel während einer Messe in Saint-Étienne-du-Rouvray. Das Leben der Franzosen und Pariser mag von einer gewissen Gelassenheit geprägt sein, doch Normalität und Ausnahmezustand schließen sich per definitionem aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken