Ein Grab in Mariendorf

Rund 4.000 Menschen kamen am 16. Mai 1976 zur Beerdigung von Ulrike Meinhof auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof. Die Mitbegründerin der RAF starb in einer Zelle in Stammheim. Aber warum liegt ihr Grab in Mariendorf? Eine Spurensuche

Es geht um Leben oder Tod, hieß es dort in metergroßen Buchstaben

von DIETMAR GAUCH

Hinter dem Grab eine Birke. Die einst als Baum der Jugend galt. Die linke Reihe neben dem Grab bis heute ungenutzt. Gras. Rechts eine Steinplatte für Frieda Wahl. 1920 mit 21 Jahren gestorben. Zu früh, um sich gegen die, die neben ihr in die Erde kam, zu wehren. Oder beizupflichten.

Ulrike Meinhofs Leiche habe keiner auf seinem Friedhof begraben wollen, schrieben die Zeitungen. Als sich dann doch eine Gemeinde fand, ist die Leiche fast gestohlen worden. Jedenfalls seien zwei Männer in der Nacht vor der Beisetzung am 16. Mai 1976 in die Kapelle eingebrochen, in der Meinhof aufgebahrt wurde. Sie seien früh von einem Zivilfahndungstrupp gestört worden und ohne Hinweise auf ihre Motive entkommen. Meinhofs Grab sei mit einem Kleinbagger ausgehoben worden, 1,80 Meter tief und habe die Nummer 3 A-012-019.

Über das Motiv, warum Ulrike Meinhof auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde Mariendorf begraben wurde, schweigen sich Zeitungen dagegen aus. Vielleicht zum Glück. Ihr einziger Versuch, doch ein Motiv zu benennen, ist falsch. Die Mutter lag keineswegs auf diesem Friedhof.

Ingeborg, diese Mutter, starb 1949. Sie kam aus dem Hessischen und gebar Ulrike Marie am 7. Oktober 1934 in Oldenburg. Werner, der Vater, wurde 1936 Direktor des Stadtmuseums in Jena und starb 1940 an Krebs. Ingeborg zog mit ihren Töchtern nach dem Krieg zurück nach Oldenburg. Dort wurde sie, vor ihrem Tod, noch Lehrerin. Mariendorf brauchte sie dafür nicht.

Immerhin hat sich Ulrike Meinhof selbst Anfang 1968 in Berlin niedergelassen. Zunächst im Villenbezirk Dahlem. Dann in Halensee. Schließlich in Schöneberg. Am 14. Mai 1970 trifft sie im „Deutschen Zentralinstitut für Soziale Fragen“ Andreas Baader. Bis zu diesem Tag ist sie Journalistin. Da sie vorgegeben hat, ein Buch über die Organisation „randständiger Jugendlicher“ zu schreiben und dazu Baaders Hilfe zu benötigen, wird dieser aus der Strafanstalt Tegel, in der er wegen „menschengefährdender Brandstiftung“ einsitzt, zu dem Institut nach Dahlem ausgeführt. Mit Hilfe zweier weiterer Frauen und eines Mannes, alle vermummt, und eines Pistolenschusses, der den Institutsangestellten Georg Linke lebensgefährlich verletzt, wird Baader befreit und Meinhof illegal. Alle weiteren Wohnungen, in Westberlin wohl drei, dienen als Versteck. Ein Motiv für die Lage des Grabes in Mariendorf liefern auch sie nicht.

Warum also in diesem Dorf? Das 1348 erstmals Erwähnung fand. Das von Tempelrittern gegründet wurde, um den christlichen Glauben mit Waffengewalt zu verbreiten. Das seit 1920 als Teil des 13. Verwaltungsbezirks zu Großberlin gehört. In dem aber bis 1930 die meisten Straßen immer noch Nummern haben statt Namen. Ein Dorf eben.

Jemanden der 4.000 Menschen zu fragen, die der Beerdigung beigewohnt haben, würde vielleicht weiterhelfen. Wienke etwa, Ulrikes Schwester. Doch sie hasse Fragen zu ihrer Schwester, schrieb einmal ein Todestagsjournalist. Von den anderen Teilnehmern verdeckten manche ihre Gesichter mit Tüchern. Aber andere zeigten sich auch. Der Theologe Helmut Gollwitzer etwa. Oder der Verleger Klaus Wagenbach. Beide hielten Grabreden. Bemühten sich, nicht alles schlecht zu finden an der Terroristin Meinhof. Handelten sich Ärger ein. Gollwitzer ist 1993 gestorben. Und Wagenbach wurde erst in der Nacht vor der Beerdigung angerufen und um eine Rede gebeten. Andere hatten abgesagt. Er weiß keine Antwort auf die zähe Frage nach dem Grab ausgerechnet in Mariendorf. Kommt bei all unserem Kämpfen nicht mehr heraus als dies, dass alles umsonst ist? Fragte Gollwitzer.

Die Frau von der Friedhofsverwaltung bleibt nett. Fällt weder in Ohnmacht bei dem Namen Meinhof noch in empörte Wut. Der Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde werde von der Heilig-Kreuz-Kirche in Kreuzberg mitverwaltet, antwortet sie. Und nennt den Namen eines Pfarrers. Doch der war 1976 noch nicht bei der Gemeinde. Aber er weiß, dass die Heilig-Kreuz-Kirche 1974 von Sympathisanten der RAF besetzt worden sei. Übrigens die erste Kirchenbesetzung in Deutschland. Damit hänge die Wahl des Friedhofs irgendwie zusammen.

Die evangelische Kirche Zum Heiligen Kreuz wurde am 27. Oktober 1888 in Anwesenheit des Kaisers Wilhelm II. eingeweiht. 1925, beim Tod des sozialdemokratischen Reichspräsidenten Ebert, waren ihre Glocken die einzigen, die in Berlin läuteten. Für die ungeliebte Weimarer Republik. Nach dem Krieg veränderte sich das soziale Geflecht Kreuzbergs. Die Gemeinde öffnete sich. Stellte Jugendlichen Kellerräume zur Verfügung. Machte Angebote für Straßenkinder. Stellte mehr und mehr die Arbeit mit ausländischen Familien in den Mittelpunkt. Am 2. Oktober 1974 besetzten etwa 30 bis 40 junge Leute die Kirche. Sie wollten auf den damaligen Hungerstreik von inhaftierten RAF-Mitgliedern und deren Haftbedingungen aufmerksam machen. Wollten, dass sich die evangelische Kirche positioniert.

Ulrike Meinhof, seit 1972 in Haft (siehe Kasten), war im April 1974 in den neuen Hochsicherheitstrakt der Vollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim gebracht worden. Ende August begann der erster Hungerstreik. Anfang Oktober begannen die Gefängnisärzte mit der künstlichen Ernährung. Am 2. Oktober erhob der Generalbundesanwalt offiziell Anklage gegen die fünf Kernmitglieder der Gruppe. Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Holger Meins und Jan-Carl Raspe. Fünf Morde wurden ihnen vorgeworfen.

Im Gemeindeblatt Heilig Kreuz vom November 1974 wird das Vorgehen gegenüber den Besetzern erklärt. Die Polizei wollte die Kirche räumen. Die beiden Pfarrer, der Pastor und die Vikarin sprachen zunächst zweieinhalb Stunden mit den Besetzern. Die vier Kirchenleute setzten weiter auf eine gewaltfreie Lösung. Sie hätten damit Blutvergießen und Zerstörungen in der Kirche vermeiden wollen. Deshalb seien sie als Kommunisten, als Rote, als Schweine beschimpft worden. Auch wenn sie nicht mit den politischen Zielen und schon gar nicht mit den Methoden der Besetzer einverstanden seien, müsse die Kirche für alle da sein, auch für die Schuldigen. Am 4. Oktober verließen die Besetzer das Gebäude. Dafür wurde in der Nacht davor eine Diskussion mit bis zu 1.000 Menschen zugelassen. Was aber hat das mit der Beerdigung von Ulrike Meinhof zu tun?

Stefan Rhein freut sich, als ihn mal wieder jemand nach den alten Zeiten fragt. Jedenfalls gibt er gerne Auskunft. Er war 1974 einer der beiden Pfarrer der Heilig-Kreuz-Kirche. Zudem Superintendent in Kreuzberg. Er hatte am ersten Sonntag nach der Besetzung, es war Erntedankfest, die Predigt gehalten. Es geht um das Leben, lautete deren letzter Satz. Das riesige Transparent der Besetzer ließ er für seine Predigt im Altarraum hängen. Es geht um Leben oder Tod, hieß es dort in metergroßen Buchstaben. Das habe irgendwie gepasst, sagt Dr. Rhein am Telefon. Nach der Besetzung sei ein Teil der Besetzer, ein Teil des Umfeldes der RAF mit den Pfarrern in persönlichem Kontakt geblieben.

Im Mai 1976 ist Rhein immer noch Pfarrer und Superintendent in Kreuzberg. Zwei Freunde von Ulrike Meinhof hätten ihn gebeten, sie auf einem kirchlichen Friedhof in Kreuzberg beizusetzen. Ein städtischer Friedhof käme nicht in Frage, sagten die Freunde, da Meinhof zu Lebzeiten den Staat gehasst habe. Die evangelische Kirche hasste sie wohl nicht. Jedenfalls ist sie nie aus ihr ausgetreten.

Schon an Martin Luther sei zu erkennen, dass die evangelische Kirche gesellschaftskritisch sei. Mehr Gemeinsamkeiten sieht Rhein zu Ulrike Meinhofs Denken nicht. Da aber jeder evangelische Christ unabhängig von seinem Lebensumständen Anspruch auf eine entsprechende Bestattung habe, erkundigte er sich zunächst nach den Umständen der Beerdigung von Holger Meins. Der war während des Hungerstreiks am 10. November 1974 bei einer Größe von 1,83 Metern mit einem Gewicht von 39 Kilogramm gestorben. Es gab einen Ansturm von Trauergästen auf dem kleinen Hamburger Friedhof. Manche Bürger wollten nicht, dass Meins neben ihren Angehörigen beigesetzt werde. Als auf einem Zettel neben dem Grabstein angedroht wurde, Meins aus dem Grab zu holen und an einem Baum aufzuhängen, ließ sein Vater eine Betondecke über den Sarg ziehen.

Rhein sagte Ulrikes Freunden schließlich zu. Aber nicht in Kreuzberg. Von dem zu erwartenden Ansturm hätten die dortigen alten, engen Friedhöfe schweren Schaden genommen. Außerdem wollte er keinen Wallfahrtsort der RAF im ohnehin konfliktgeladenen Kreuzberg. Auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof in Mariendorf war mehr Platz und Ruhe. Deshalb dort.

Nach der Trauerfeier habe sich ein Demonstrationszug zum Kleistpark formiert, erzählt Rhein. Am Abend seien am Kurfürstendamm Fensterscheiben eingeworfen worden.

Hinter der Birke sind seit Anfang der 80er vier Grabreihen entstanden. Genügend Platz für über 4.000 Trauergäste gäbe es heute nicht mehr. Frieda Wahl wird das nicht stören. Ulrike Meinhof, ihre Nachbarin, die die Fortsetzung ihrer gemeinsamen Grabreihe zu blockieren scheint, hätte sie zwanzig Jahre nach der Beisetzung fast verlassen. Der Mietvertrag lief aus. Ihre Schwester durfte um fünf Jahre verlängern, hätte aber eigentlich mehr gewollt. Inwischen sei das Grab langfristig gesichert, heißt es von der Friedhofsverwaltung. Ist das Verfallsdatum für die Provokation Meinhof überschritten?