Edgar Wallace bei 3sat: Alle so jung, alles so fesselnd gruselig
„Die toten Augen von London“ sind ein Klassiker – ob als Buch oder Film. Und was geschieht, wenn man Klassiker wieder hervorholt? Sie verwandeln sich.

Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie schauen einen Film an – und von der ersten Minute ist Ihnen die Handlung vertraut. Sie wissen vorab, dass Inspektor Larry Holt überrascht sein wird, in seinem Büro auf Nora Ward zu treffen – er hatte sie sich als alte Tante vorgestellt; so wie sie gleichsam überrascht sein wird, dass er kein alter Knochen ist.
Sie wissen, dass Scotland Yard sie als Braille-Spezialistin angefragt hat. Weil man einen Fetzen unverwüstlichen Papiers mit jenen Schriftprägungen bei einer Leiche in der Themse gefunden hat.
Und mit jeder Filmminute wird Ihnen klarer: Sie kennen alles – vom Opfermuster, allesamt hoch versicherte, stinkend reiche Männer, bis zu Motiv, Plan, Tat. Und Sie sind nicht wirklich sauer, dass Sie sich damit selbst den Krimi spoilern, weil der Film eine so großartige Mischung aus kauzig und gruselig ist.
Und doch wirkt alles seltsam. Die Leute sehen anders aus. Hatte man den unfassbar jungen Blacky Fuchsberger als Holt vor Augen, die stabil blond ondulierte Karin Baal als Nora Ward?
Die Komik einer Kopfbewegung
Überhaupt: Hatte man das Ganze in Schwarz-Weiß gesehen? Begann die Geschichte nicht eigentlich in Paris? Auch die Todeskämpfe der Mordopfer hatte man anders in Erinnerung – gedämpfter, die Schreie weniger markerschütternd. Definitiv ohne die schreckgeweiteten Augen von Klaus Kinski. Und was zur Hölle macht Eddi Arent da als strickender Kriminalassistent Sunny Harvey? An diese typische Arent-Art, Komik in eine Kopfbewegung, einen Tonfall zu packen, müsste man sich doch erinnern! Oder?
Dass all das so bekannt scheint, wundert kaum: Edgar Wallace’ „Die toten Augen von London“ ist schließlich ein Klassiker. Vor allem als Teil der Welle westdeutscher Wallace-Verfilmungen seit Ende der 1950er. Seit Mitte Juli sendet 3sat viele davon abends – weshalb sie aktuell dort in der Mediathek liegen. So wie „Die toten Augen von London“ von 1961, verfilmt von Alfred Vohrer.
Was dieses seltsam surreal verschobene Déjà-vu-Erlebnis angeht: Es löst sich auf mit einem Blick vom Schreibtisch aus nach links, zu einem Stapel unterm Bücherregal. Ein Packen dünner Taschenbücher, alarmrot, ein bisschen zerfleddert hier und da. Auf den Buchrücken steht „Goldmanns Taschen-Krimi“. Eingepackt bei einem der vorigen Besuche im westdeutschen Elternhaus, die alten Bände aus der Jugendzeit des Vaters.
Neulich, auf dem Weg zu einem Zahnarzttermin, ging es darum, vorbereitet zu sein: auf Wartezeit, speckige Lesezirkelzeitschriften, noch mehr Wartezeit.
Und so saß man dann also im tiefen Südosten Berlins im Wartezimmer und las, was man sich in der Eile eingesteckt hatte: „Die toten Augen von London“, zuletzt gelesen vor 35 Jahren. Exakt dieses Exemplar. Ganz vorne der Stempel mit der väterlichen Elternhausadresse. Der Kleber hat sich inzwischen aufgelöst, wo er war, sind nun dunkle Stellen. Die Seiten lösen sich einzeln, wenn man nicht vorsichtig umblättert. Auf der ersten Seite steht unten klein: „Es ist unmöglich, von Edgar Wallace nicht gefesselt zu sein!“
Das westdeutsche Nachkriegsdeutschland konnte nicht genug davon bekommen: Über 30 dieser Buchverfilmungen entstanden damals. Und sind auch heute: fesselnd gruselig. Selbst wenn man sie in der Mediathek streamt.
„Die toten Augen von London“, 3sat-Mediathek
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