EU verhandelt mit der Türkei über Beitritt: Eine sehr pragmatische Politik
Dank der türkischen Hilfe bei der Abschottung gegen Flüchtlinge geht es mit den Beitrittsverhandlungen voran. Zwei neue Kapitel wurden jetzt eröffnet.
Nun hat Brüssel geliefert: Am Montag Abend wurde das erste von insgesamt fünf neuen Verhandlungskapiteln geöffnet. Die EU-Außenminister gaben grünes Licht für Gespräche über Wirtschafts- und Finanzthemen.
Klar ist, dass das Wirtschafts- und Finanzkapitel zu den leichteren Hürden der seit 2013 unterbrochenen Beitrittsgespräche zählt. Viel schwieriger - und wichtiger - sind die Kapitel 23 und 24, wo es um die Grundrechte, die Justiz und die bürgerlichen Freiheiten geht.
Denn die Türkei steht mit Bürgerrechten und Freiheiten auf Kriegsfuss, wie die EU-Kommission in ihrem - mit Rücksicht auf Erdogan lange unter Verschluss gehaltenen - jüngstem „Fortschrittsbericht“ selbst einräumt. Nachdem zwei führende türkische Journalisten verhaftet und der Spionage angeklagt worden waren, hatte die EU-Kommission versprochen, die Kapitel 23 und 24 besonders wichtig zu nehmen.
Auch deutliche Kritik an der Türkei
Noch wichtiger scheint allerdings die Zusammenarbeit in der Flüchtlingspolitik zu sein, für die sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel stark gemacht hatte. Man müsse sich nicht gleich die dicksten Brocken vornehmen, sondern pragmatisch vorgehen, sagte Erweiterungskommissar Johannes Hahn - ein Österreicher - am Montag. „Pragmatismus“ sei „nicht der schlechteste Ratgeber“ in Beziehungen zu Nachbarstaaten.
Sebastian Kurz, Außenminister
Wesentlich unverblümter drückte es Hahns Landsmann Sebastian Kurz aus: „Es geht hier darum, dass die Türkei uns hilft, dass die Flüchtlinge gar nicht erst bis nach Europa durchkommen“, betonte der österreichische Außenminister. Man müsse „die Dinge ehrlich beim Namen nennen“ - die Menschenrechte spielen bei den Beitrittsverhandlungen eben nur die zweite Geige.
Allerdings sind damit längst nicht alle EU-Politiker einverstanden. Vor allem im Europaparlament wird Widerspruch laut. „Ich halte die Öffnung eines neuen Kapitels für verlogen“, kritisiert die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel. Der Türkei gehe es vor allem darum, in gutem Licht zu erscheinen. Dem „Wir sind die Guten“ müsse die EU jedoch klare rechtsstaatliche Standards entgegensetzen.
Noch ablehnender äußert sich die Linke im EU-Parlament. „Die Europäische Union muss damit aufhören, die Türkei als strategischen Partner bei der Lösung der Flüchtlingskrise anzusehen und ihre Verhandlungen stoppen“, fordert die Europaabgeordnete Sabine Lösing. Zur Begründung verweist sie auf den Abschuss eines russischen Kampfjets durch die Türkei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Im Gespräch Gretchen Dutschke-Klotz
„Jesus hat wirklich sozialistische Sachen gesagt“