EU und Geflüchtete: Menschen als Waffe
Europa ist mitverantwortlich dafür, dass Menschen als Druckmittel eingesetzt werden. Es macht sich erpressbar und spielt Autokraten in die Karten.
I m Mai letzten Jahres zwang Belarus einen Linienflug zwischen zwei Mitgliedsstaaten der EU zur Landung. Angeblich aufgrund einer Bombendrohung, die jedoch erst nach dem ersten Kontakt zum Flugzeug an belarussische Behörden geschickt wurde – per Mail. An Bord des Flugzeugs befanden sich ein belarussischer Dissident und seine Freundin, beide wurden nach der Landung verhaftet.
Diese staatlich organisierte Entführung ist der Beginn einer internationalen Erpressung, die bis heute fortwirkt. West und Ost befinden sich in einer Art neuem Kalten Krieg – mit völlig neuen Waffen: Menschen.
Als Reaktion auf die Entführung von Roman Protassewitsch sperrte die EU ihren Luftraum für belarussische Fluggesellschaften. Sie bedachte die Diktatur Alexander Lukaschenkos mit weiteren Sanktionen. Der Machthaber kündigte Rache an: von nun an werde sein Land Flüchtende nicht aufhalten, wenn diese in die EU einreisen wollen. Belarus grenzt im Westen an Polen, im Nordwesten an Litauen.
Im Juni berichteten polnische Anwohner erstmals von Geflüchteten, die durch ihre Heimat weiter nach Westen zogen. Es war der Startschuss zu einer systematischen Aktion. Das Ziel: die EU zu erpressen und ihre Doppelzüngigkeit aufzudecken.
22, kommt aus Berlin und absolviert aktuell ein Auslandssemester in St. Petersburg. Sonst studiert er an der TU Dresden Internationale Beziehungen.
Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention
Viele der Flugverbindungen, die Flüchtende Richtung Belarus nutzen, existieren erst seit einigen Monaten. Die belarussische Fluggesellschaft „Belavia“, ein Staatsunternehmen, untersteht Diktator Lukaschenko. Ebenfalls auffällig ist, wie gerne Belarus plötzlich One-Way-Visa Richtung Minsk ausstellte, zu teils horrenden Preisen, von denen das sanktionsgebeutelte Land ebenfalls profitiert. Lukaschenko lockte also Menschen in prekären Situationen gezielt in sein Land, um sie dann Richtung polnische Grenze zu schicken.
Die sieht mittlerweile gar nicht mehr nach einer grünen Grenze aus. Über 180 Kilometer erstreckt sich ein Grenzzaun, aufgebaut im Eiltempo von polnischen Sicherheitskräften. Auch hier gibt es Stimmen, wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer andeutete, dass auch Mauern an den EU-Außengrenzen wieder nötig wären.
Es ist ein Stück weit verständlich, dass auf Erpressungsversuche von Lukaschenko, der das Ende aller Sanktionen im Gegenzug für die Beendigung des staatlichen Schleusens forderte, nicht mit der sofortigen Aufnahme aller Menschen an der Grenze reagiert wird. Denn das würde den Diktator in seinem erpresserischen Vorgehen bestätigen.
Die abgeriegelte Grenze macht es jedoch denjenigen, die auf der belarussischen Seite sind, unmöglich, überhaupt erst einen Antrag auf Asyl zu stellen, und das ist nicht hinnehmbar. Über Bleiberechte in der EU entscheiden Asylverfahren und nicht die Frage danach, auf welcher Seite der Grenze sich ein Mensch befindet.
Die polnische Regierung bricht geltendes Völkerrecht
Schlimmer noch: Berichte über Zurückschiebungen durch Polen reißen nicht ab. Zurückschiebungen verstoßen gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, und auch der Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention untersagt die Ausweisung von Flüchtenden in Länder, in denen Freiheit oder Leben aufgrund Nationalität oder Religion bedroht sein würden – in Belarus nichts Undenkbares.
Polen aber hat die Grenzregion abgeriegelt, lässt sie militärisch bewachen. Die Presse bleibt ausgesperrt. Die Regierung weiß genau, was sie tut – sie bricht geltendes Völkerrecht.
Die EU reagiert auf die Situation an der Grenze bisher mit Verschärfungen der Sanktionen und Schuldzuweisungen in Richtung Minsk – und, etwas leiser, gegen Moskau. Auch das ist verständlich, schließlich schwingt sich Lukaschenko mit Putins Rückendeckung zum Schleuser auf, um die EU zu erpressen.
Was jedoch niemand in Brüssel gerne sagt: Würde die EU zu den Prinzipien ihrer Verträge und Identität stehen, wäre eine solche Erpressung unmöglich. Die EU ist in diesem Punkt nur verwundbar, weil sie seit Jahren auf eine Politik der Abschottung setzt, die mit der Beschreibung „Festung Europa“ treffend formuliert ist.
Den Begriff Festung benutzen osteuropäische Politikerinnen inzwischen ganz ungeniert – bisweilen sogar stolz. Ungarns Justizministerin Judit Varga etwa, die in der FAZ erklärte: „Wir werden ohnehin keine illegalen Migranten reinlassen – die Festung Ungarn steht.“
Ohne Schengen-Pass in Richtung EU
Immer, wenn ein Autokrat wie Erdoğan oder ein Diktator wie Lukaschenko damit droht, Menschen ohne Schengen-Pass in Richtung EU zu schicken, sollten wir uns fragen, warum diese Drohung überhaupt wirkt. Gäbe es ein funktionierendes System der Verteilung innerhalb Europas und menschliche Bedingungen der Einreise in die Union, dann würde Minsk gar nicht erst auf die Idee kommen, Menschen als Druckmittel zu instrumentalisieren.
Lukaschenko ist direkt verantwortlich für das Leid der Menschen, ja. Aber es ist die Politik der EU, die ihm den Weg bereitet. Seit Jahren stopft die Union jedes Loch in der Außengrenze, durch das Menschen einreisen könnten. Auch gibt es kein europäisches Einwanderungsgesetz, welches Migration legalisieren und ordnen würde – eigentlich etwas, wonach Europas Politik ständig ruft. Denn nicht alle Menschen an der Grenze sind Fliehende, manche von ihnen wollen einfach ein besseres Leben. In jedem Fall hat es niemand verdient, so behandelt zu werden.
Nur durch rigorose Abschottung wird eine Lücke in der Außengrenze erst so interessant, dass Menschen in Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran und weiteren Ländern bereit sind, alles zu riskieren. Es ist also die unmenschliche Ausgangssituation, welche die EU selbst geschaffen hat, die Lukaschenkos menschenverachtende Erpressung erst ermöglicht.
Auch unterstützt die Reaktion der EU das zentrale Argument osteuropäischer Antidemokraten: Demokratie existiert nicht, alle Systeme sind gleich und haben ihre Schatten- und Lichtseiten. Die gleiche Union, die, völlig zu Recht, Menschenrechtsverletzungen in Belarus anprangert, verweigert seit Jahren effektiv Tausenden das Recht auf ein Asylverfahren. Das ist ein schweres Vergehen an den eigenen Werten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen