EU-Ratspräsident will Amt niederlegen: Michel geht – Orbán profitiert?
Statt EU-Ratspräsident will Charles Michel lieber EU-Kandidat sein. Doch wenn er geht, könnte das dem umstrittenen Orbán in die Karten spielen.
In Brüssel geht nun die Sorge um, dass ausgerechnet Viktor Orbán von diesem Schritt profitieren könnte. Der ungarische Rechtspopulist übernimmt am 1. Juli für sechs Monate den rotierenden Ratsvorsitz. Orbán tritt damit zwar nicht in Michels Fußstapfen. Dennoch könnte er die EU-Agenda zu einer kritischen Zeit prägen. Viele EU-Regierungen kritisieren Ungarns Ministerpräsidenten unter anderem, weil er die Demokratie in seinem Land einschränkt.
„Ich habe beschlossen, bei der Wahl zum Europäischen Parlament im Juni 2024 zu kandidieren“, sagte Michel. Vier Jahre nach Beginn seiner Amtszeit sei es seine „Verantwortung, sowohl Rechenschaft über die Arbeit der vergangenen Jahre abzulegen als auch ein Projekt für die Zukunft Europas voranzutreiben“, so der 48-Jährige.
Völlig überraschend kommt der Schritt nicht. In seinem Amt als ständiger Ratspräsident, das er 2019 von Donald Tusk übernahm, konnte Michel sich nie wirklich durchsetzen. Der Dauerstreit mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) überschattete seine Tätigkeit. Als Tiefpunkt gilt das sogenannte Sofagate: Michel und von der Leyen waren 2021 gemeinsam zu einem Besuch bei Präsident Recep Erdoğan in die Türkei gereist. Während es sich Michel im Sessel neben Erdoğan bequem machte, wurde von der Leyen aufs Sofa verwiesen – ein diplomatischer Eklat.
Ausgerechnet Orbán
Michel hat seither zwar wieder Boden gutgemacht. Beim letzten EU-Gipfel im Dezember gelang ihn gemeinsam mit Kanzler Olaf Scholz das Kunststück, eine Blockade im Streit um den EU-Beitritt der Ukraine zu verhindern. Orbán nahm an der entscheidenden Abstimmung nicht teil, Michel konnte grünes Licht für Beitrittsgespräche geben. Mit seinem vorzeitigen Abgang sorgt er jedoch erneut für Ärger.
Ursprünglich sollte Michel noch bis Ende November als EU-Chef fungieren. Damit hätte er über die Zeit von der Europawahl im Juni bis zur Ernennung einer neuen EU-Kommission im Herbst für Kontinuität an der EU-Spitze gesorgt. Nun könnte Ungarn in die Lücke stoßen, die Michel wohl schon im Sommer hinterlässt.
„Ausgerechnet Victor Orbán würde dann Interimspräsident, da Ungarn die rotierende Präsidentschaft innehaben wird“, schrieb die Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley (SPD), auf X. „Kann man sich nicht ausdenken.“
Führungslos wird die EU allerdings nicht. Von der Leyen ist noch bis Herbst im Amt, bei ihrer möglichen Wiederwahl sogar noch bis 2029. Dass Orbán von Michels plötzlichem Abgang profitiert, ist auch nicht sicher. Schließlich dürfte die EU spätestens bei ihrem Gipfeltreffen Ende Juni einen neuen Ratspräsidenten wählen.
Als mögliche Kandidaten gelten der scheidende niederländische Regierungschef Mark Rutte und der frühere Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi. Ein Machtvakuum dürfte es an der EU-Spitze also nicht geben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten