EU-Ministertreffen in Ungarn: Nur ein Drittel reist an
Im Juli übernahm Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft – und sorgt seitdem für Unmut in der Staatengemeinschaft. Ist ein Boykott die Lösung?
Die offiziellen Gründe für die Absage von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und vielen seiner EU-Amtskollegen sind unterschiedlich. Alleingänge von Orbán spielen aber eine Rolle. Bei den vergangenen informellen Finanzministertreffen in Belgien, Spanien und Schweden waren Angaben der Ausrichter zufolge jeweils mindestens 25 Länder auf Ministerebene vertreten.
Ungarn hat seit Juli die halbjährlich rotierende EU-Ratspräsidentschaft inne und ist so auch für die Ausrichtung von informellen Ministertreffen zuständig. Schon wenige Tage nach Beginn sorgte Orbán für Aufruhr – mit einer nicht mit der EU abgestimmten Auslandsreise. Dabei traf er in Moskau Kremlchef Wladimir Putin und inszenierte dies als „Friedensmission“ zur Lösung des Ukraine-Konflikts. Später reiste er noch zu Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping sowie zum früheren US-Präsidenten Donald Trump. Jüngst provozierte Budapest erneut und drohte als Protest gegen die europäische Asylpolitik damit, Flüchtlinge und Migranten nach Brüssel zu bringen.
Die Reisen stießen auf großen Unmut in der EU – vor allem, weil der Kreml den Moskau-Besuch für seine Propaganda ausschlachten konnte und Orbán bei der Reise in der Ukraine-Politik nicht klar die EU-Position vertrat.
Von der Leyen reagiert mit Boykott-Entscheidung
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen reagierte mit einer Boykott-Entscheidung auf die Alleingänge und kündigte Mitte Juli an, dass an künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der Ungarn keine Kommissarinnen oder Kommissare, sondern nur ranghohe Beamte teilnehmen werden. So wird auch EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni nicht an dem Finanzministertreffen in der ungarischen Hauptstadt teilnehmen. Auch Kommissionsvize Valdis Dombrovskis wird nicht kommen.
Die Entscheidung von der Leyens kam kurz vor der Abstimmung im Europäischen Parlament über ihre zweite Amtszeit. Europäische Parteienfamilien wie die Sozialdemokraten, Grüne und Liberale hatten sie zuvor mehrfach aufgefordert, einen härteren Kurs gegenüber Ungarn einzuschlagen. Auf die Stimmen aus diesen Lagern war die Deutsche für ihre Wiederwahl angewiesen.
Die EU-Länder sind sich uneinig darin, welcher Kurs in Sachen Ungarn zu verfolgen ist. Einige Länder wie Litauen, Schweden und Dänemark kündigten an, vorübergehend keine Ministerinnen und Minister zu Treffen nach Ungarn schicken. Auch aus Finnland, Estland und Lettland sind aus diesem Grund keine Finanzminister in Budapest zu erwarten.
Bundesfinanzminister Lindner reist ebenfalls nicht nach Budapest, sondern lässt sich vertreten – wegen nationaler haushaltspolitischer Verpflichtungen werde er in Berlin sein müssen, sagte er vor einigen Wochen. An diesem Freitag ist die Schlussrunde der Haushaltswoche im Bundestag. Am Samstag stehen in diesem Zusammenhang keine Termine für ihn an.
Etwa aus Italien und Luxemburg reisen Minister an
Aus Frankreich heißt es, in Erwartung einer neuen Regierung werde das Treffen in Budapest nicht auf Ministerebene besetzt. Auch andere Mitgliedsstaaten führen nationale Termine als Grund für eine Nicht-Anreise an oder sagen, mit so wenigen Ministern vor Ort seien seriöse Diskussionen nicht möglich.
Auf der anderen Seite steht unter anderem Luxemburg. Finanzminister Gilles Roth will den Angaben zufolge am Treffen in Budapest teilnehmen. Luxemburgs Regierungschef Luc Frieden sprach sich für mehr Dialog mit Ungarn aus. Außenminister Xavier Bettel plädierte im Juli für eine Teilnahme an Treffen in Budapest, man müsse sich die Sachen „ehrlich ins Gesicht sagen“. Auch aus Italien, Slowenien, Kroatien, Malta, Zypern, Belgien, Bulgarien und der Slowakei wollen die Finanzminister den Angaben zufolge zu dem Treffen anreisen.
Auch die Eurogruppe, das Gremium, in dem sich die Finanzminister der Länder mit der Gemeinschaftswährung regelmäßig treffen, findet an diesem Freitag in Budapest statt. Dieses richtet ihr irischer Präsident Pascal Donohoe aus und nicht die Ungarn.
Ein informelles Treffen der EU-Außenminister war im Juli verlegt worden: Ursprünglich hatten die Beratungen von der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft in Budapest organisiert werden sollen. EU-Chefdiplomat Josep Borrell hielt dies allerdings wegen Orbáns Aktionen für unangebracht und hatte stattdessen nach Brüssel eingeladen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen