EU-Klimaziel 2040 beschlossen: Umweltminister legen die Axt an
Die EU-Umweltminister schwächen das EU-Klimaziel und verzögern Klimaschutzmaßnahmen. Das gefährde Umwelt und Industrie, warnen Kritiker.
In einer verfahrenen, 18-stündigen Verhandlung haben sich die Umweltminister*innen der Europäischen Union (EU) auf ein neues Klimaziel geeinigt. Bis 2040 wollen die 27 Mitgliedsstaaten ihre Treibhausgasemissionen um 85 Prozent im Vergleich zu 1990 senken.
Weitere 5 Prozent CO₂-Einsparung wollen die Länder durch Kompensationen, also Klimaschutzprojekte außerhalb Europas erreichen. Damit haben sie den ursprünglichen Vorschlag der EU-Kommission stark verwässert. Dieser sah vor, den CO₂-Ausstoß der EU bis 2040 um 90 Prozent zu senken. Kompensationen stellte die Kommission nur in Höhe von 3 Prozent als "mögliche" Option in Aussicht.
Das EU-Klimaziel für 2040 bestimmt die Richtung und Ambition der Klimaschutzmaßnahmen des kommenden Jahrzehnts. Das nun abgeschwächte Klimaziel wird die europäische Klimapolitik deshalb auf lange Zeit prägen.
Der deutsche Umwelt- und Klimaminister Carsten Schneider (SPD) zeigte sich zufrieden, dass die EU und Deutschland jetzt ein gemeinsames Klimaziel für 2040 haben: „Wir gehen gemeinsam im Gleichschritt voran“, sagte er. Das sei ein wichtiger Fortschritt für das Klima und eine gute Nachricht für die deutsche Wirtschaft, „weil es gleiche Wettbewerbsbedingungen gibt“.
Ökonomin: Europa riskiert Führungsrolle
Claudia Kemfert, Ökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, sieht die europäische Industrie dagegen vom schwachen Klimaziel gefährdet: „Die EU schwächt ihr Klimaziel genau in dem Moment ab, in dem andere Regionen – vor allem China – massiv in grüne Technologien investieren“, kritisierte sie gegenüber der taz. „Europa riskiert, seine Führungsrolle in Zukunftsmärkten wie Wind, Solar, Batterien oder Wasserstoff zu verlieren.“
Dass die EU-Staaten außereuropäische Klimaprojekte anrechnen wollen, „wird erhebliche Summen aus der EU abziehen, während CO₂-Zertifikate mit hoher Qualität knapp sind“, warnte Frauke Thies, Direktorin der Denkfabrik Agora Energiewende.
Neben der Einigung zur CO₂-Kompensation haben Frankreich, Polen und andere Bremser-Länder durchgesetzt, dass Europas Wälder und Moore, sogenannte natürliche CO₂-Senken, nicht zum Klimaschutz beitragen müssen, wenn ihr Zustand zu schlecht ist. Außerdem soll das 2040er-Klimaziel regelmäßig überprüft werden. Weiteren Abschwächungen – aber auch Verschärfungen, wenn sich die politischen Machtverhältnisse wieder ändern – ist also das Tor geöffnet.
Michael Bloss, grüner Abgeordneter im EU-Parlament, nannte den Kompromiss aufgrund der vielen Schlupflöcher „ein Ziel voller Revisionsklauseln, Senken-Ausreden und neuen Hintertüren“. Das EU-Parlament muss der Einigung der Umweltminister*innen noch zustimmen.
Polen und Italien setzten weitere Schwächungen durch
Auch Umweltschützer*innen sind unzufrieden mit dem Ergebnis der Verhandlungen. Viviane Raddatz, Klimachefin beim WWF, kritisierte, der Einsatz internationaler Zertifikate und die weiteren Verwässerungen des Zielwerts seien riskant „und bei Einhaltung strenger Standards sehr viel teurer, als direkt innerhalb der EU zu reduzieren“.
In den Verhandlungen, die sich bis in die frühen Morgenstunden des Mittwochs zogen, setzten einzelne EU-Länder zudem Forderungen durch, die andere Bereiche der Klimaschutz-Architektur der EU schwächen: Dem Nachrichtenportal Politico zufolge werden die Umweltminister*innen auf Druck Italiens fordern, dass auch Treibstoffe mit „geringem CO₂-Ausstoß“ nach 2035 eine Rolle spielen sollen. Das könnte das vereinbarte Neuzulassungsverbot für Verbrenner ab 2035 schwächen. Und Polen bestand darauf, den europäischen CO₂-Preis für Heizen und Tanken um ein Jahr zu verschieben.
Claudia Kemfert, Ökonomin
„Weniger Klimaschutz für ein starkes Klimaziel, diese Gleichung geht nicht auf“, sagte Grünen-Politiker Bloss. Die Bundesregierung müsse nun mit zusätzlichen Maßnahmen wie einem schnelleren Hochlauf der Elektromobilität gegensteuern, „sonst kann Deutschland seine Klimaziele nicht erreichen.“
Sogar der Automobil-Lobbyverband VDA kritisierte die Verschiebung des CO₂-Preises für Heizen und Tanken: Damit werde ausgerechnet jenes marktwirtschaftliche Leitinstrument geschwächt, das kosteneffizienten Klimaschutz ermöglichen sollte. „Wer solch weitreichende Klimaziele beschließt, darf nicht gleichzeitig die zentralen Instrumente zur Zielerreichung aufweichen“, sagte VDA-Präsidentin Hildegard Müller.
Auch Ökonomin Claudia Kemfert sieht die Bundesregierung in der Pflicht, ein starkes Gegengewicht zum schwachen Klimaziel zu schaffen: mit klaren Rahmenbedingungen, Investitionen in Erneuerbare, Industrie-Innovation und Energieeffizienz. „Nur wer in Klimaschutz investiert, bleibt wirtschaftlich souverän.“
Internationale Vorreiterrolle der EU geschwächt
Der wissenschaftliche Klimabeirat der EU hielt es im Vorfeld der Verhandlungen um das Klimaziel für ambitioniert, aber umsetzbar, die europäischen CO₂-Emissionen bis 2040 um 90 bis 95 Prozent zu senken. Die Forscher*innen sprachen sich gegen die Anrechnung außereuropäischer Klimaschutzprojekte auf das Klimaziel aus. Ein Rechtsgutachten hatte deshalb vergangene Woche gewarnt, dass ein Klimaziel mit weniger als 90 Prozent CO₂-Reduktion völkerrechtswidrig sein und deswegen Klagen und Rechtsunsicherheiten befördern könnte.
Über das neue Klimaziel hatte die EU seit Juni verhandelt. Dabei war schon im Februar die UN-Frist für ein 2035-Klimaziel verstrichen, das alle Unterzeichner des Pariser Klimaschutzabkommen dieses Jahr abgeben müssen. Die Verhandlungen zwischen den EU-Staaten und der Kommission wurden noch weiter verzögert, weil Bundeskanzler Friedrich Merz blockierte: Er schloss sich dem Wunsch des französischen Präsidenten Emmanuel Macrons an, dass die Regierungschef*innen über das Klimaziel beraten sollten, bevor die Umweltminister*innen entscheiden.
Das 2035-Ziel – dass die EU bei den Vereinten Nationen für den in wenigen Tagen im brasilianischen Belém stattfindenden Weltklimagipfel einreichen wird – ist auch nach dem Rat der Umweltminister*innen noch vage: zwischen 66 und 72 Prozent CO₂ wollen die Mitgliedsstaaten in den kommenden 10 Jahren einsparen. „Das ist enttäuschend und zu wenig, um beim Klimagipfel in Belém Eindruck zu machen“, sagte Petter Lydén, der bei Germanwatch für internationale Klimapolitik zuständig ist. Anstatt mit einem soliden Klimaziel andere Länder mit hohen Emissionen zu ermutigen, ebenfalls ihren Beitrag zu leisten, reihe sich die EU ein „in die lange Reihe von Staaten mit mäßigen bis schwachen oder unklaren Klimazielen.“
Gemeinsam für freie Presse
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert