ESC-Kolumne #Queerjungfrauen IV: „Russland ist nun einmal auch Europa“
ESC-Empfang in Kopenhagens Rathaus: Wird die russische Delegation mit den Ukrainern ins Gespräch kommen? Zu ihr gehört Oligarchen-Liebling Kirkorov.
B eim Empfang müssen natürlich alle Delegationen – 37 sind es hier in Kopenhagen – dabei sein. Das gebietet allein das, was man als Takt & Ton bezeichnen muss. So ein Defilée, dieses Jahr im backsteinernen Rathaus von Kopenhagen, ist immer eine festliche Angelegenheit. Die Frage war nur: Würde auch Russland kommen?
Und wenn ja: Wie würden etwa die Teams aus der Ukraine, Weißrussland oder Georgien reagieren? Die früheren Mitsowjets meiden? Gute Miene zum bösen Spiel in der Ukraine machen? Ohne jetzt letztgültige Garantien abzulegen: Aber nach Auskunft von ESC-Beobachtern und nach eigenem Eindruck gab es, als die beiden russischen Tolmatschewa-Schwestern den Catwalk vor dem Rathaus endlich abgeschritten waren und die schön gebohnerten Steinfliesen im Gebäudeinneren betraten, absolut keinen Kontakt zur Delegation um Marija Jaremtschunk aus Kiew.
Okay, das war auch gut zu schaffen: Der Rathaussaal hat eine hübsche Fläche von einem halben Fußballfeld, aber irgendwann muss jeder wandeln und irgendwie kann man dabei immer einer Missliebigen über den Weg laufen. Man kennt das: Man übersieht und rempelt sich absichtslos am Weinausschank doch an.
Doch die Sängerinnen und Sänger haben ohnehin keine Zeit, die Speisen oder Getränke zu prüfen – sie müssen posieren. Für diesen Zweck haben sie sich sehr schick gemacht. In jede Kamera hinein geben sie sogenannte Interviews, sagen, wie wohl sie sich fühlen, wie schön die Stadt sei und so weiter und so üblich. Aber mir will das Gefühl nicht aus dem Kopf, dass es diesmal anders ist als in den vorigen Jahren.
In Dublin, 1994, beim ESC-Debüt etwa von Russland, Polen, Ungarn, Rumänien und der Slowakei, taten sich nach dem offiziellen Teil noch gerade diese Delegationen am Flügel zusammen und musizierten. Man lachte und scherzte – und sie wirkten tatsächlich wie lange verschollene Verwandte, die endlich am Familientisch Platz nehmen können.
Aber in Kopenhagen? Die Tolmatschewa-Zwillinge, die, aus der Nähe betrachtet, aussehen wie kostbare, sehr, sehr gepflegte Porzellanpuppen – klein, schmächtig, offenbar trainiert, aufgerüscht in ihren Lacroix-artigen Bauschkleidchen –, lächelten in die Kameras. Wer die Halle durchschritt wie ein Souverän, war der russische Musikproduzent Philippe Kirkorov, selbst Sänger beim ESC 1995 (mit schlechtem Abschneiden; das Publikum goutierte seine exaltierte Performance so gar nicht).
Pop, ein grenzüberschreitendes Gewerbe
Man kennt ihn als Figur auch aus deutschen TV-Produktionen, gelegentlich zeigte er sich als Mann, der in einem goldenen Palast lebt, über tausende Paar Schuhe verfügt und unterhalb von Gucci gar nichts Fashionables an sich heranlässt. Er hatte einst eine Ehe mit dem russischen Star Ala Pugatschowa und hat für so gut wie alle russischen Nachbarländer auch schon gearbeitet. Gegen Kirkorov nahm sich ein US-Entertainer wie Liberace wie ein Bauarbeiter in Zufallsverkleidung aus: Aber er besitzt Macht, er ist am Hofe der Oligarchen wohlgelitten.
Hier und da grüßt er. Als erstem reicht er Fredrik Kempe, eine Art Ralph Siegel von Schweden, die Hand. Sie kennen sich gut – wie sich die Musikmachenden im Hintergrund ohnehin alle gut kennen. Pop ist schließlich ein grenzüberschreitendes Gewerbe.
Davon abgesehen, dass die russische Delegation nach einer Dreiviertelstunde den Empfang wieder verlassen hatte, sagte der georgische Komponist Zaza Miminoschvili mit Blick auf die russischen Gäste: „Wir sind in Kopenhagen, weil auch hier Europa entsteht. Und das, was die Ukrainer durchmachen, haben wir in Georgien 2008 erlebt.“ Wenn man sich mit der entscheidenden Macht in Osteuropa anlegt, kann das leicht schiefgehen.
Der Mann, der seit 20 Jahren in Stuttgart lebt und dort seine kompliziert-feinsinnigen Kompositionen weltmusikalischer Art fertigt, sagt jedoch auch: „Russland ist nun einmal auch Europa. Sie sind da. Und sie werden bleiben. Vielleicht ist so ein Festival das Beste, um sich miteinander auszuhalten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen