ARD-Koordinator über Musikwettbewerb: „Man muss den ESC ernst nehmen“
Der ARD-Unterhaltungskoordinator Thomas Schreiber über die Bedeutung des ESC in Zeiten von YouTube, das Problem mit dem Schlager und Industrial Flair.
taz: Herr Schreiber, freuen Sie sich auf Kopenhagen?
Thomas Schreiber: Aber klar.
Was macht Ihre Zuversicht aus?
Ich bin mir sicher, dass die Dänen eine schöne Veranstaltung hinlegen werden. Ich freue mich darauf, dass es mit einer ehemaligen Werfthalle eine einmalige Location sein wird, die zwar nicht das Vorbild für die nächsten Jahre sein kann …
… weshalb nicht? Industrial Flair ist doch so trendig wie nix.
Weil es unfassbar aufwendig ist, eine Industrieruine in einen TV-Show- und Konzertsaal zu verwandeln. Dennoch: Eine eigene Ästhetik wird es dieses Jahr durch die Halle haben, das ist sicher.
Zurück zu Ihrer Vorfreude?
Australien wird im zweiten Halbfinale am Donnerstag dabei sein.
Der Mann: 55, Programmleiter im Bereich Fiktion & Unterhaltung beim NDR Fernsehen sowie ARD-Unterhaltungskoordinator. Seit 2009 ist er der Kopf der ARD in Sachen ESC.
Der ESC im TV: Halbfinale am 6. und 8. 5., 21 Uhr, Einsplus und Phoenix; Finale am 10. 5., 20.15 Uhr, ARD.
Nun, durch einen Showact außerhalb der eurovisionären Konkurrenz.
Ja, aber Australien wird sich mit einem großen Auftritt darum bewerben, vielleicht zukünftig eine größere Rolle beim ESC spielen zu können. Und natürlich freue ich mich, weil wir mit „Elaiza“ einen sehr guten deutschen Beitrag haben.
Nochmals zu Australien. Wäre eine Teilnahme dieses Landes ein Signal für viele andere außerhalb Europas, sich um den ESC zu kümmern?
Nein, Australien ist besonders, weil der ESC dort seit Abbas Sieg 1974 sehr bekannt ist – und weil dort viele Menschen mit europäischen Vorfahren leben. Der ESC ist eine der zwei oder drei erfolgreichsten Shows des Jahres in Australien.
Gleichwohl: Dieses Jahr sind in Kopenhagen beim 59. Eurovision Song Contest seit 1956 recht wenige Länder dabei – 37. Die Türkei, Serbien, Kroatien oder auch Bulgarien zogen zurück. Bedauern Sie deren Fehlen?
Ja, aber was soll ich sagen? Man muss die wirtschaftliche Situation bei vielen Ländern zur Kenntnis nehmen – ich freue mich, dass Länder wie Polen oder Portugal wieder dabei sind.
Erwarten Sie im Hinblick auf die politische Situation in Russland und der Ukraine, dass diese sich beim ESC niederschlagen?
Nein, ich bin mir nicht sicher, dass dies eine Rolle spielen wird – auch weil ich nicht weiß, was bis dahin passieren wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es politische Wertungen geben wird, aber weiß nicht, ob es die in einer solchen Menge geben wird, dass sie messbar sind. Am Abend des Finales wird die Mehrheit des Publikums auf das reagieren, was gerade auf der Bühne geschehen ist, nicht unbedingt auf das, was wochenlang vorher in den Nachrichten war.
Was ist für Sie als ESC-Chef der ARD und deren Koordinator für das Unterhaltungsprogramm dieses Event überhaupt – eine Show, die für die ARD bei den Quoten erfolgreich ist, oder eine, die in europäischer Hinsicht das einzige Entertainmentformat ist?
Der ESC ist in der Tat einzigartig. Es gibt zwei Dinge, die für die ARD das Investment in Zeit und Geld rechtfertigen. Zunächst kann der ESC eines der erfolgreichsten Programme des Jahres im Ersten sein – so wie in den letzten Jahren. Zwischen 6 und 14 Millionen Zuschauer waren es in den Jahren seit 2008, das ist ein gutes Niveau. Der zweite Aspekt betrifft die Zukunft des ESC.
Nächstes Jahr wird er zum 60. Mal aufgeführt.
Meine These ist, dass der ESC, wenn er sich ernst nimmt, wenn er von den Teilnehmerländern ernst genommen wird, Land für Land, ein Schaufenster zeitgenössischer Popmusik sein kann und sein sollte. Wäre das in Zukunft noch stärker so, wäre er für die Zuschauer noch interessanter. Und für die Musiker in allen möglichen Ländern des Eurovisionsgebietes.
Beispiele?
Loreens Erfolg 2012 in Baku hat dazu geführt, dass ihr Song „Euphoria“ einer der international erfolgreichsten ESC-Songs aller Zeiten wurde. Für Lena war der ESC der Beginn einer eigenständigen Karriere außerhalb des ESC. Oder der Belgier Tom Dice, der 2010 Fünfter wurde, aber auch im Nachbarland Deutschland wahrgenommen wurde. Alles in allem kann der ESC eine Plattform sein, die den Musikern hilft.
Früher brauchte es den ESC, um allen Popkünstlern, die nicht in Großbritannien beheimatet waren, über ihr eigenes Land hinaus sich Geltung zu verschaffen. Abba etwa, die mit ihrem Sieg 1974 über Schweden hinaus bekannt werden konnten. Inzwischen gibt es so viele Kanäle, um sich international zu profilieren. Braucht es den ESC noch in dieser Hinsicht?
Selbstverständlich, durch das Internet, durch YouTube etwa, gibt es für Künstler heutzutage ganz andere Wege, sich zu profilieren, auch international. Trotzdem hat der Eurovision Song Contest, wenn für diesen die richtigen Weichen gestellt werden, eine Größenordnung, die durch YouTube, durch keine andere Adresse im Netz aufgewogen wird. Der ESC versammelt europaweit soviele Menschen wie keine andere Unterhaltungssendung. Wo gibt es für Künstler eine vergleichbare Bühne?
Welche Weichen müssten denn gestellt werden?
Zuerst muss der ESC in den einzelnen Ländern von den Sendern ernst genommen werden. Ich denke, dass in den einzelnen Ländern das Publikum entscheiden sollte, wer für das Land antritt – das ist schon für die Identifikation mit dem eigenen Künstler wichtig. Es ist gut, dass Großbritannien dieses Jahr den ESC mit einer interessanten jungen Künstlerin betraut.
Ketzerisch gefragt: Warum sollten das Künstler mit Popambitionen in großen Ländern wie Deutschland tun? Sie haben doch einen Markt, der sie sättigt – die brauchen doch Europa nicht.
Richtig, viele sind mit dem einheimischen Markt zufrieden, er ist tatsächlich auskömmlich. Aber andere Musiker hat es immer wieder gegeben, die international Karriere gemacht haben – die relevant sind, wie Rammstein etwa, oder es waren, wie Tokyo Hotel. Es hat in jüngster Zeit tolle Künstler gegeben – Zaz aus Frankreich oder Stromae aus Belgien –, die in ihrer Landessprache international Erfolg haben. In meiner idealen Welt würden diese auch beim ESC mitmachen. Und wenn nicht sie, die bereits erfolgreich sind, dann eine neue Generation, die ihren Weg aber über den ESC geht. Die Plattform ist da – man muss sie nur nutzen.
Muss sie nicht auch seriös sein?
Eben. Der ESC ist wie eine Marke – wenn man sie nicht pflegt, verliert sie an Bedeutung. Man kann den ESC gucken, muss es aber nicht. Damit das Publikum ihn als Event ernst nimmt, muss man als Macher den ESC selber ernst nehmen. Man kann in der Hinsicht viele Fehler machen.
Nicht, dass jetzt Künstler wie die von „Unheilig“ verschnupft sind, dass sie nicht die Vorentscheidung gewonnen haben?
Zu unserer Arbeit zählt, dass niemand der an der Vorentscheidung beteiligten Künstler mit dem Gefühl nach Hause reist, verloren zu haben. Klar, der Ehrgeiz war bei allen vorhanden – zu gewinnen und nach Kopenhagen zu reisen. Aber das es „Elaiza“ geworden ist, hat den anderen vom Image her nicht geschadet.
Ist es nicht gelegentlich deprimierend, wie neulich etwa in der Süddeutschen Zeitung einen Text zu einem der Moderatoren des ESC in Kopenhagen, Pilou Asbaek, zu lesen – hierzulande bekannt durch seine Rolle im Krimimehrteiler „Borgen“ –, in dem in puncto ESC mit hämischem Klang von „Schlager“ geschrieben wird?
Wer liest die Medienseite und für wen schreibt der Autor? Ich weiß es nicht. Das breite Publikum schaut das Programm und liest weniger die Texte über das Programm.
Cascada belegte voriges Jahr den 21. Platz – das weckte keine Glücksgefühle, nehme ich an. Von welchem Platz an, den „Elaiza“ in Kopenhagen erreicht, ist dieser ESC für Sie keine Enttäuschung?
Ich habe gleich nach „Elaizas“ Sieg in Köln vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Nicht schon auf Platz eins hochschreiben. Natürlich treten wir an, um zu gewinnen. Wünschen uns eine Top-10-Platzierung und ein TV-Publikum der ARD, das sich über diesen Eurovision Song Contest freut und ihn einschaltet. Und das heißt: möglichst viele Zuschauer.
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