EMtaz: Wales vor dem Halbfinale: Die frei flottierende Neuneinhalb

Vorne Gareth Bale, gute Standards, schnelle Konter. Warum Belgien-Bezwinger Wales mehr als nur ein aufmüpfiger Fußballzwerg ist.

Walisische Fans stauenen und freuen sich

Verdient steht das walisische Team im Halbfinale. Das Staunen aber bleibt Foto: reuters

LILLE taz | Es gibt eine sentimentale Zuschauersehnsucht beim Sport, dass der vermeintlich oder tatsächlich Kleinere gewinnt. Ist ja okay. Aber man muss das mit den putzigen Außenseitern nicht überstrapazieren. Und es geht schon auch darum, dass der bessere Fußball gewinnt.

Was Wales angeht, so treffen die Spieler am Mittwoch im EM-Halbfinale auf Portugal, und das ist eine historische Leistung. Schlicht weil sie das vorher noch nicht geschafft hatten. Eine Sensation ist das nicht. Sie haben beim 3:1 über Belgien in Lille das Optimum aus ihren Möglichkeiten gemacht, und die Belgier haben die ihren nicht annähernd umgesetzt. Aber das ist oft so im Fußball und hängt meistens auch zusammen.

Das alles kommt nicht aus dem Nichts. Zum einen profitieren die Waliser von der verbesserten großbritannischen Fußballausbildung, die eine Reihe junger, kreativer Fußballer hervorgebracht hat, darunter eben auch Gareth Bale. Dann hat ihnen ihr Trainer Chris Coleman einen einfachen, aber effektiven Konterfußball erarbeitet, in dem sie seit dem vergangenen Jahr ihre Möglichkeiten ideal ausdrücken und vor allem ihr Tor sehr gut schützen.

Neun Spieler sind mit dem Anspruch des Verteidigens auf dem Platz, dazu kommen Keilstürmer Hal Robson-Kanu und der exzeptionelle Gareth Bale als frei flottierende Neuneinhalb. Wales hat so nicht nur in der Gruppe Russland und die Slowakei geschlagen und dann, im Achtelfinale, die Nordiren. Es hat auch in der Qualifikation Bosnien hinter sich gelassen und schon dort, das vergisst man gern, gegen Belgien einmal gewonnen, einmal Remis gespielt.

Superkonterteam ausgekontert

Dass sie in der Freitagnacht von Lille ausgerechnet das belgische Superkonterteam ausgekontert haben, hat Coleman am besten gefallen. Sicher hat man stark davon profitiert, dass Marc Wilmots nach diversen Ausfällen eine Abwehr aufbot, die sich als dysfunktional herausstellte. Dadurch kam Wales per Standardtreffer überhaupt erst zurück ins Spiel. Aber wie das Team bei den folgenden Treffern die Räume in ihrer Tiefe und ihrer Breite nutzte, das war bei aller belgischen Unkompaktheit und taktischen Hilflosigkeit schon auch bemerkenswert.

Dabei war auch zu sehen, dass Gareth Bale, Champions-League-Sieger mit Real Madrid, zwar ihr exzeptioneller Spieler ist, aber doch nicht alles dominiert, wie man von Weitem annehmen könnte.

Auf der Brennsuppe sind die Waliser nun wirklich nicht dahergeschwommen

Es gibt auch den Kapitän, Innenverteidiger und Torschützen Ashley Williams, der exemplarisch für den Spirit und die Wucht des Teams steht. Es gibt Joe Allen (Liverpool) und vor allem Arsenals Aaron Ramsey, der gegen Belgien zwei Tore vorbereitete, nun aber für das Halbfinale gesperrt ist. Auf der Brennsuppe sind die nicht daher geschwommen. Seinen vereinslosen Angreifer Robson-Kanu hat Coleman explizit als „einen der besten Stürmer bei diesem Turnier“ bezeichnet. Er wird sich wirklich keine Arbeitsplatzsorgen machen müssen.

Innovation, Spektakel und Ästhetik

Selbstverständlich ist da dann auch der berühmte Spirit, der das Team zusammenbindet und emporhebt. Coleman hat gesagt, dass Wales­’ Spieler „mit ihrem Leben verteidigen und mit ihrem Leben angreifen“.

Diese Art, zu sprechen und zu denken, ist mächtig in Mode gekommen. Überall Diego Siemeone.

Nun ist es freilich so: Je weniger individuelle Klasse da ist, desto mehr muss über das Kollektiv laufen. Aber so wie man von Özil oder Ronaldo auch verlangt, dass sie „kämpfen“, so muss man von Außenseitern auch verlangen können, dass sie mehr als existenziellen Überlebenskampf zu bieten haben. Fußball ist ein Spiel. Es geht um Innovation, Spektakel und Ästhetik. So gesehen war zumindest die Nacht von Lille eine Versöhnung von Überlebensdenken und Spektakel.

Sehnsucht nach Sichtbarkeit

Die Waliser genießen und zelebrieren jedenfalls ihre Rolle als diejenigen, die eigentlich „gar nicht hier sein sollten“, wie Coleman sagte. Das meint nicht die eigene Perspektive, sondern die der anderen. Das drückt eine Sehnsucht nach Sichtbarkeit aus. Man möchte gesehen werden.

Die anschwellende Begeisterung für den Zwerg basiert ja eben auf einer Phase langjährigen Ignorierens.

Vor allem geht es auch um den Abgleich mit England. Viele der Waliser Spieler spielen ja deshalb für Wales, weil sie für England als nicht gut genug galten. Nun haben die einen bestätigt bekommen, dass sie kein erstklassiges Team sind. Und die anderen sind – zumindest in diesem Moment – in Europas erster Klasse. Die Ironie besteht darin, dass es andersherum ist, als zumindest die Engländer dachten. Trotzdem ist aus der bekanntlich eingeschränkten großbritannischen Perspektive die zentrale Geschichte dieser EM das Scheitern Englands.

Doch zumindest in diesem Moment ist der walisische Fußball sichtbar. Sie sollten die Tage pflücken.

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