EMtaz: Pro und Contra Favoriten: Sind die Großen noch zu retten?
Spanien, Deutschland, Frankreich. Werden die Favoriten ihrem Status gerecht? Oder sind nicht längst alle Teams Geheimfavoriten?
Pro: Die Big Player sind spielerisch weit besser als der Rest
D rei zu null. Klasse, diese Spanier! Endlich mal ein Turnierfavorit, der seine ganze spielerische Raffinesse gezeigt hat. Locker, flockig, leicht die türkische Mannschaft abgefiedelt. So lustvoll, dass der alte Iniesta prompt zum pirloesken Magier erhoben wurde. Fußball zum Genießen, mit einem Gläschen Rioja, dazu Tapas. Ach, wie herrlich, rufen all jene, die Fußball schauen, weil sie von der europäischen Elite auch mal das jogo bonito, das schöne Spiel, erwarten.
So wie früher eben, als diese bislang so biedere Euro 2016 noch in ferner Zukunft lag. Als der Catenaccio noch nicht im Sturm begann und man zu Länderspielen gegen Island noch den Gesangsverein Liederkranz hinschickte, dessen Ensemble den Insulanern dann standesgemäß ein Dutzend Tore einschenkte. Im Stil des jogo bonito, logisch!
Diese EM bietet jedenfalls wenig Klasse. Das spanische 3:0 war die einzige Partie, die Dominanz mit Eleganz paarte. Der Rest: viel Gewurschtel und Gewürge, Krampf und Kampf. Von den „Großen“, und damit auch von der deutschen Elf, erwartet man mehr. Eine adelige Fußballnation muss so gewinnen, wie es ihrem Stand entspricht. Ein adeliger Weltmeister, den man schon ganz anders gesehen hat (Stichwort: 7:1 gegen Brasilien), sowieso.
Am besten inspiriert und angeführt von den großen Stars, den „Führungsspielern“. Deren Panini-Bildchen sammeln Kita-Lausbuben (und -Lausmädchen) wie alte Ehepaare gleichermaßen. Weil sie die personifizierte Faszination des Spiels sind: Özil, Iniesta, Ibrahimovic, Ronaldo, Pogba, de Bruyne, Buffon und die restlichen Markenbotschafter.
Seltsam übrigens, dass von außen gerade der Teamsport Fußball stärker denn je individualisiert wird. Das Spiel selbst kollektivieren die modernen Trainer ja gleichermaßen umso intensiver. Auch ein Grund, warum elf Mittelklassekicker gegen ein Starensemble bestehen können.
Die Frage zum Kernproblem lautet also: Geht mit der EM 2016 die Ära der Großen endgültig zu Ende? Schließlich gibt es ja auch keine Kleinen mehr, wie es (seit wann genau eigentlich?) immer so schön heißt. Und wie Isländer, Nordiren und Waliser gerade beweisen, scheint das zu stimmen.
Dabei ist genau das Gegenteil der Fall. Die Big Player – Spanien, Deutschland, Frankreich, selbst England und Italien – sind spielerisch immer noch weit besser als der Rest. Das „Problem“ ist nur: Im taktischen und athletischen Bereich existieren diese Unterschiede nicht mehr.
Deshalb können die „Kleinen“, die allesamt viel Geld für professionelle Strukturen ausgeben (Island: Trainingshallen, die ganzjährig Kälte und Regen trotzen), ganz gut dagegenhalten. Oft hässlich, aber erfolgreich. Und einige werden es mit diesem Konzept sogar in die K.-o.-Runde schaffen. Dann müssen sie aber die Bühne freigeben.
Die üblichen Topkandidaten haben ja überhaupt gar keine Chance mehr, unverhofft früh in den Sommerurlaub zu fahren. Gleich drei Teams aus einer Gruppe winkt das Weiterkommen. Also begnügen sich die nominell besser Besetzten damit, die Vorrunde zu überstehen. Egal wie. Hauptsache nicht auskontern lassen wie blutjunge Anfänger. Wer 1:0 führt, wird nicht auf Teufel komm raus nachlegen wollen.
Effizienz ist gefragt, kein Spektakel. Die Topteams sind noch längst nicht an ihrer Leistungsgrenze angelangt. Weshalb auch die Kleinen den gleichwertigen Sparringspartner mimen dürfen – noch. David Joram
Contra: Es gibt nur noch große Ligen, keine großen Nationen
Nun sind ja schon 24 der 55 Mitgliedsverbände der Uefa bei der EM dabei. Und doch tut sich kein Gefälle auf. Kantersiege bleiben aus, und fußballerisch angeblich unwichtige Nationen wie Island oder Albanien werden plötzlich zu, naja: sehr geheim gehandelten Favoriten.
Und nicht nur die Niederlande werden bei diesem Turnier nicht vermisst, auch das Fehlen anderer Europameister der jüngeren Fußballhistorie, Griechenland oder Dänemark, fällt nicht auf. Stattdessen werden Österreich und Belgien als Große gehandelt, denn spielerisch fallen sie nicht ab gegen jene, die doch als Großmächte gelten: Spanien, Deutschland, Italien, vielleicht noch England und Frankreich.
Fußball in Europa, das sind große Ligen, nicht Nationen: Die Premier League, die Serie A, die Primera División, die Ligue 1 und die Bundesliga. Aber die versammeln eben nicht mehr die je besten Spieler einer Nation, sondern die großen Klubs dort bedienen sich auf dem globalen Spielermarkt. Ein Spieler wie Cristiano Ronaldo ist im Fußball das, was Sandra Bullock im Film und Katy Perry in der Musik sind: eine internationale Spitzenkraft.
Doch bei der EM soll die Weltmarke CR7 plötzlich regionale Produkte nach oben bringen. Ronaldo ist dort zwar nicht der Einzige, der bei einem Topkonzern der Kickerbranche sein Geld verdient, aber die portugiesische Verbandsauswahl ist eben nicht das, was Ronaldos Arbeitgeber ist: Real Madrid, ein Verein also, der nicht auf Pass und Staatsbürgerschaft schauen muss, wenn er einen Spieler verpflichten möchte, der zu Ronaldo kongenial passt.
Die Nation ist in der globalisierten Ordnung unwichtig geworden; die Nationalmannschaft auch. Der bessere Fußball wird in den großen und kapitalstarken Ligen gekickt – und vor allem in der Champions League. Für die EM heißt das: Natürlich sind einige Vertreter des weltbesten Fußballs hier versammelt, selbstverständlich lebt dieses Turnier von Cristiano Ronaldo und Zlatan Ibrahimovic und meinetwegen auch von David Alaba und Thomas Müller. Doch keines von deren Teams repräsentiert die Stärke der Liga.
Das gilt nicht mal für das englische Team, das sich aus der Premier League rekrutiert. Die Stärke dieser Liga drückt sich in den dort kickenden Weltstars aus, von denen einige auch einen britischen Pass haben. Und sie verdankt sich ihrer ökonomischen Potenz, die wiederum von internationalen Geldgebern und von einem sehr lukrativen Fernsehvertrag kommt. Nationalmannschaften, die sich mit Weltstars wie Ibrahimovic oder Rooney schmücken, werden aber nicht vom Markt zusammengestellt, sondern vom nationalen Fußballverband.
Fans, die immer noch nicht sehen, dass das in der Epoche der Nationalstaaten mal wichtige Turnier jetzt unwichtig geworden ist, müssen auf das Jahr 2020 vertröstet werden. Dann wird die Zahl von 24 Teams auf 13 europäische Städte verteilt: von Amsterdam bis Sankt Petersburg. Dann ist nichts mehr mit nationaler Selbstpräsentation, die doch angeblich nicht nur dem EM-Gastgeber Frankreich, sondern auch den künftigen WM-Ausrichtern Russland und Katar nachgesagt wird.
Die großen Fußballnationen gibt es nicht mehr. Und die Uefa, die ihr Turnier in der Konkurrenz zur Champions League unbedingt lukrativ halten will, wird sich auch umgucken müssen. Irgendwann sehen es auch die Besitzer von Plastikfähnchen an Kraftfahrzeugen ein. Martin Krauss
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