EMtaz: Neue Fußballstatistik ist Quatsch: Pack mich nicht an
Taktik-Streber zählen neuerdings Steilpässe. „Packing“ ist der neue heiße Scheiß der Taktik-Analyse. Die Schönheit des Spiels ist jedoch nicht zählbar.
T aktik-Analysten haben ein neues Quatschwort: „Packing“. Damit ist weder Kofferpacken gemeint, weil man es vor böllernden Party-Patrioten zuhause nicht mehr aushält, noch das Löw'sche Anpacken der Klöten und das anschließende Schnüffeln an der Hand. Packing, das bezeichnet neuerdings im verschwurbelten Fußball-Klugscheißer-Sprech das, was Günther Netzer laut Fußballmythos schon 1972 gemacht hat, nämlich aus „der Tiefe des Raumes“ kommen. Oder wie es Normalsterbliche nennen: Steilpass.
Nach der falschen Neun, der abkippenden Sechs und der verklausulierten Drölf ist das Packing die neueste Stilblüte der Schiefer-Tafel-Fetischisten der Fußballanalyse. Mehmet Scholl und Matthias Opdenhövel, das Expertenduo der ARD, freuten sich in der Nachberichterstattung des 2:0-Sieges der Deutschen gegen die Ukraine über die neue Statistik wie kleine Kinder an Weihnachten: Der offenbar über Nacht in den Taktik-Olymp aufgestiegene Ex-Fußballprofi Stefan Reinartz durfte seine selbstausgedachte Fantasie-Statistik einem Millionen-Publikum präsentieren. Verteidiger überspielen, das nenne man jetzt „packing“, behauptete er. Die neue Technik der Spielbetrachtung könne die Fußballanalyse für immer verändern, waren sich die ARD-Experten einig.
Und das Beste: Man kann es zählen. Wie viele Gegner wurden per Steilpass überspielt? Wie viele Verteidiger? Nach Toren, Vorlagen, Ballkontakten, Pässen, Torschüssen, Freistößen, Abseits, Ecken, Anstößen, verkauften Bieren, gestellten Beinen und Einwürfen zählt man nun im Fußball endlich auch die überspielten Gegner.
Gezählt wird alles, was überlupft wird. Eine Passflanke von Boateng, die an der Eckfahne landet: Acht Ukrainer leiden unter Packing. Neuer schlägt einen Ball nach vorne, Götze kommt zufällig dran: zehn Ukrainer gepacked (sprich: gepäggt). Özil spielt eine Traumflanke zum Tor auf Bastian Schweinsteiger: Nur zwei Gegenspieler gepäggt. Nun ja.
Die Schönheit des Spiels ist nicht messbar
Die ARD ist jedoch begeistert: „Das bestätigt ein Gefühl“, sagte Mehmet Scholl. Endlich könne man in Zahlen fassen, wie tief der Pass wirklich war. Und zusammen zählten die ARD-Experten am Flachbildschirm im TV-Studio: Toni Kroos will einen Ball nach vorne bolzen, holt aus, Standbild. Die komplette ukrainische Mannschaft vor ihm. Bewegtbild. Der Ball fliegt im hohen Bogen über alle Köpfe hinweg zu Sami Khedira, schöner Pass. Oder wir man es heute nennt: Neun Spieler gepackt (sprich: gepäggt), davon vier Verteidiger. Toll.
Das allerdings ist hinlänglich bekanntes Grundprinzip des steilen Passes. Und der existiert seit Fußballgedenken: Spätestens jedoch seit 1925, als das Abseits in seiner heutigen Form eingeführt wurde. Es ist gewissermaßen das Grundhandwerk eines offensiven Mittelfeldspielers. Ermöglicht wird der Steilpass durch spiegelneuronale Empathie, also die Fähigkeit, Bewegung zu antizipieren. Eine Sache, die man nicht erlernen kann. Dafür gibt es bereits schöne Begriffe: Talent, Spielverständnis und ein solches Zuspiel heißt Traumpass oder eben einfach Steilpass. Um einen schönen Steilpass zu erkennen, braucht es nicht viel. Und schon gar keine neue Statistik. Denn die Schönheit des Spiels ist nicht messbar und auf keinem Second-Screen zu finden.
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