piwik no script img

EMtaz: Kolumne Queering SoccerBrexit – who cares?

Jan Feddersen
Kolumne
von Jan Feddersen

Die EM ist wie der ESC ein Event der Proeuropäer. Ein Festival, das die Menschen verbindet. Ein Brexit kann das nicht kaputt machen.

„Ich weiß nicht genug darüber, um besorgt zu sein. Und ich denke, den anderen geht es genauso.“ Englands Stürmer Harry Kane (l.) kommentiert den Brexit Foto: ap

U m es mal als Mann von bald 59 Jahren zu sagen: Die EU ist mir, solange ich politische Empfindungen in mir wäge, immer wichtiger gewesen als alles, was an Vorlieben oder Hass mit oder gegen CDU, SPD, Grünen und Linken so existiert. Die Europäische Union, das war, ist und bleibt hoffentlich eine Nachkriegsfriedensordnung – mit der Betonung auf Ordnung, bitte! – sondergleichen.

Um es persönlich zu bekennen: Niemals, auch nicht zu obskursten Zeiten linksradikaler Art, habe ich auch nur phantasiert, in Brüssel herrsche ein bürokratischer Wasserkopf (davon abgesehen, dass mir die Vokabel nicht eingefallen wäre, weil sie Behindertenfeindliches meint). Brüssel, das war die antinationale Lösung, nicht irgendein Problem. Die EU – mit ihr war Schlafwandelei (Christopher Clark) nicht mehr möglich. Soviel zu meinen deprimierten Gefühlen von Trostlosigkeit, heute morgen mit den Nachrichten im Radio.

Und was hat das jetzt mit der EM in Frankreich zu tun? Alles. Alles. Die Institutionen mit mächtigster Europäisierungs-, also Friedenskraft waren die Uefa und die European Broadcasting Union (EBU). Die führen zwar beide nicht das Antikriegerische in den Präambeln, jedenfalls nicht als Wichtigstes.

Zur Uefa gehören 55 Fußballverbände, auch solche, die nicht mehr geographisch korrekt in Europa liegen, aber sich kulturell wie politisch darauf beziehen: Israel, die Türkei oder vier Fünftel von Russland. Zur EBU, die einmal im Jahr beachtet wird, weil sie den Eurovision Song Contest ausrichtet, zählen 56 Mitlgiedsländer, auch solche aus dem Maghreb oder auch der Libanon.

Nichtkriegerische Utopie

Beide Institutionen leben vom Gemeinsamen, vom Zweck des Spiels miteinander – und so verhalten sich auch die allermeisten ihrer Fans. Sie kloppen sich nicht – Hools sind ja medial aufgeheizte Kriegerfiguren –, sie halten sich aus. Überwiegend nicht nationalistisch gesinnt, sondern national im Sinne eines gewissen Wir, das andere aber nicht ausschließt.

Um vom absolut schwulen ESC zu berichten: Der ist definitiv noch schwuler, als alle sowieso meinen. Und dann ist es zugleich so, wie es auch Frankreich von der Fußball-EM berichtet wird: Fans unterschiedlicher Länder mischen sich. In Cafés, beim Public Viewing. In den Fußgängerzonen, den öffentlichen Transportmitteln. Beim ESC beispielsweise sitzen russische mit ukrainischen, aserbaidschanische mit armenischen Fans ziemlich friedlich zusammen. Arbeitssprache: Englisch, auch, als postsowjetisches Erbe, Russisch.

Die Jungs reden darüber, aber wir sind nicht allzu fokussiert darauf. Wir versuchen, bei der EM weiterzukommen.

England-Stürmer Harry Kane

Das ist, wie beim Fußball, gelebte, nichtkriegerische Utopie. Man ist für die Eigenen (Mannschaft, Frauschaft, Sänger oder Sängerin), respektiert mit größter Lust aber Siege der anderen. Was zählt, ist nicht die Unterordnung zum Politischen, sondern die Fähigkeit zum Miteinandersein, zum Genießen des Fremden und Anderen überhaupt.

Okay, das klang jetzt sentimental und besser als das Leben selbst. Aber wenn es denn doch so ist? Fußball-EM, das ist die international begründete, aufs Nationale gebrachte Alternative zum viel langweiligeren Kick der Champions League. Dort geht es ums Geld, um die Stärke der finanziellen Möglichkeiten. EM aber – das ist ein Festival, von dem die allermeisten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht einmal zu träumen wagten. Die EM ist wie der ESC ein Event der Proeuropäer. Ein Brexit kann das nicht kaputt machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jan Feddersen
Redakteur für besondere Aufgaben
Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!
Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!