Flakon für Flakon was Gutes zum Riechen. Am liebsten wird dabei zur „Tulpe“ gegriffen, im Moment das bestgehende Parfüm bei „Harry Lehmann“

Dufte riechen

Die Duftmischerei Wer es auch bei seinem Duft gern individuell hat, geht zu Harry Lehmann. In diesem Geschäft bekommt man seine ganz persönliche Parfümnote – seit nun 90 Jahren

Der Mann der Düfte: Lutz Lehmann in seinem Geschäft

von Peter Weissenburger
Fotos Dagmar Morath

Was macht der denn noch hier? Manchmal gerät man in Berlin an Läden, die so aus der Zeit gefallen scheinen, dass man kurz blinzeln muss, um sich zu vergewissern, dass man nicht in ein Filmset gestolpert ist. Das Parfümgeschäft „Harry Lehmann“ ist so ein Fall. Manch ein gestresster Charlottenburger Shopper wird wohl daran vorbeilaufen, so unscheinbar ist der Laden in der Kantstraße, wenige Schritte entfernt vom U-Bahnhof Wilmersdorfer Straße. Und so altbacken erscheint der Werbeschriftzug über dem Eingang.

„Parfums nach Gewicht“ steht da, und „Künstl. Blumen“. Im Schaufenster: wuchtige Glasflakons, akkurat aufgereiht. Jeder trägt den Namen seines Inhalts an einer Kette um den Hals, als wäre er ein Botschafter aus der Duftnotenbehörde – Abteilung „Veilchen“, „Orange“ oder „Eau de Berlin“.

Markenware ist keine zu sehen, das ehrwürdige Chanel No. 5 ebenso wenig wie die neuesten Kreationen von Ralph Lauren oder Dior. Wer danach sucht, muss ins Kaufhaus gehen. Bei „Harry Lehmann“ gibt es nur individuell gemischte Parfüms – und das seit genau 90 Jahren.

Im Innern: noch mehr Flakons, Regale voller Flakons, alle gleich. Es gibt keine peppige Aufmachung, kein Design, keine Werbeposter. Überhaupt erinnert der Verkaufsraum eher an eine Apotheke als an eine Parfümerie, sachlich und steril – wären da nicht die Düfte, mal herb, mal zitronig frisch, die sich unsichtbar im Raum bekriegen, um schließlich zu einem süßlichen Allesundnichts zu werden.

In jedem Glasbehälter spiegelt sich im Kleinen die Deckenlampe, eine Sonne aus Neonröhren im 50er-Jahre-Stil. Die Neon­sonne hat Harry Lehmann höchstpersönlich entworfen. Daran erinnert sich Lutz Lehmann, sein Sohn, der die Parfümerie heute führt. Lutz Lehmann ist 61, seit wann er genau Chef ist, kann er nicht sagen. Schon als kleines Kind, sagt er, half er regelmäßig seinen Eltern im Laden. So ist er in das Unternehmen hineingewachsen, bis es irgendwann seines wurde. „Harry Lehmann“ ist ein typischer Familienbetrieb.

Der Duft der weiten Welt

Im Frühjahr 1926 eröffnet der Großvater, Eduard Lehmann, ein Parfümgeschäft in der Potsdamer Straße. Eduard Lehmann ist zu diesem Zeitpunkt 66 Jahre alt und will sich eigentlich zur Ruhe setzen. Der ehemalige Kaufmann lebt von Zinsen und hat die Welt bereist. Heute würde man ihn einen Jetsetter nennen. Unter Lehmanns Lieblingszielen waren Südfrankreich und Arabien, von dort bringt er Düfte mit und das Wissen darüber, wie man sie herstellt und mischt.

Am Anfang jeden Parfüms steht der Fond, erklärt Lutz Lehmann. Der Fond ist eine simple Basisnote. Bei klassischen Frauenparfüms verwendet man eine Blüte, etwa Rose, Maiglöckchen oder Jasmin. Wobei Jasmin allmählich aus der Mode kommt. „Schwere, orientalische Düfte sind nicht mehr zeitgemäß“, sagt Lutz Lehmann. Also nimmt er Maiglöckchen, das ist gefälliger.

„Würzig herb“, so riecht „New York“

Den Fond ergänzt Lehmann dann Schritt für Schritt durch weitere Düfte. Nach jeder Zugabe wartet er drei Tage, bevor er die Riechprobe macht. So lange dauert es, bis sich die Gerüche miteinander verbinden. Dann entscheidet Lehmann, ob der neue Duft etwas für die Tonne ist oder doch fürs Schaufenster.

Das Konzept „individuelle Parfüms“ geht zurück auf den Firmengründer. Eduard Lehmann trifft damit im Berlin der zwanziger Jahre einen Nerv, das Geschäft zieht an. Nach einigen Jahren übernimmt Sohn Harry Lehmann mit seiner Frau Edith das Unternehmen. Aber im Jahr 1939 erhält das Ehepaar einen offiziellen Bescheid: ihr Laden muss dem Umbau der Hauptstadt weichen.

Hitler und sein Architekt Speer planen die „Welthauptstadt Germania“. Die Potsdamer Straße, wo der Parfümladen steht, soll Teil einer Prachtstraße werden, der sogenannten „Nord-Süd-Achse“. Die Lehmanns müssen umziehen, immerhin in die Friedrichstraße. Doch das neue Geschäft wird schon wenige Jahre später durch Bomben zerstört. An seiner Stelle steht heute das Luxuskaufhaus Galeries Lafayette.

Nach dem Krieg kehren die Lehmanns mit den Flakons, die ihnen geblieben sind, zurück in die Friedrichstraße. Aber auch dieses Mal bleiben sie nicht lange. Bei den neuen Ostberliner Behörden sind die die Parfümeure nicht gerne gesehen, denn sie leben im Westteil der Stadt und schaffen das verdiente Geld ins „Ausland“. Die Lehmanns kapitulieren und ziehen sich komplett nach Westberlin zurück. Adresse Nummer vier liegt in der Joachimstaler Straße am Bahnhof Zoo, der neuen City West.

In den 50er und 60er Jahren erlebt die BRD und mit ihr die Familie Lehmann das Wirtschaftswunder. Westdeutschland ist im Aufschwung, man hat wieder Kaufkraft, auch für Luxusartikel wie Parfüm. Harry Lehmann expandiert, hat jetzt außer am Zoo noch Geschäfte in der Wilmersdorfer Straße, in der Neuköllner Karl-Marx-Straße, sogar in Frankfurt am Main. Im Jahr 1958 eröffnet in der Kantstraße die Filiale mit der Neonsonne.

Das Parfüm zur Probe

Die anderen Filialen sind inzwischen wieder verschwunden. Geblieben ist der nostalgische Geheimtipp in der Kantstraße. Und die Geschäftsidee: das individuelle Parfüm.

Um das entwerfen zu können, errät Lutz Lehmann zunächst, wer da vor ihm steht. Wie ist der Kunde angezogen? Was ist seine Gestik? Innerhalb weniger Sekunden hat Lehmann ein Bild davon, wer sein Gegenüber ist oder wer er gerne sein will – und welcher Duft dazu passt. Wie das genau funktioniert, will er nicht verraten. „Das ist Psychologie“, sagt er nur. Der Rest ist Betriebsgeheimnis.

Weil die Parfümpsychologie aber nicht immer hundertprozentig richtig liegt, lässt Lehmann seine KundInnen Düfte „anprobieren“. Einen Tag lang sollen sie einen Duft tragen und dann zurückkommen. So nähern sich Parfümeur und Kunde langsam der richtigen Mischung. Die besteht nach Lehmanns Erfahrung aus maximal fünf Komponenten. Mehr als das lässt sich nicht mehr unterscheiden, der Duft wird flach. „Das ist wie beim Mischen von Farben, irgendwann sieht man nur noch braun.“ Wenn die Prozedur erfolgreich war, wird das Rezept des neuen Parfüms in der Kundenkartei dokumentiert. So kann der persönliche Duft immer wieder bestellt werden.

Das Geschäft läuft gut, Lehmann bemerkt nichts von einer Krise des Einzelhandels und findet auch nicht, dass das Interesse an Parfüms nachgelassen hat. Er selbst zieht bei seinem Betrieb allmählich die Bremsen an. Großaufträge lehnt er inzwischen ab. Die Knochenarbeit, das langwierige Herstellen von Düften, wird ihm zu viel. „Ich will noch etwas leben“, sagt er, „auch mal in Urlaub fahren.“ Reisen ist für ihn wichtig, um neue Düfte zu entdecken.

Wenn er unterwegs etwas Angenehmes erschnuppert, hat Lutz Lehmann sofort eine Vermutung, wie sich der Duft „nachbasteln“ ließe. Zumindest annähernd, den Rest muss er dann zu Hause ausprobieren. Wenn er erfolgreich war, wird die Urlaubserinnerung Teil der Glasflaschenreihe im Schaufenster.