Drohnenangriffe auf Kiew: Das Brummen in der Nacht
Seit Oktober werden Kamikaze-Drohnen in der Ukraine eingesetzt. In Westeuropa wird wieder darüber diskutiert, ob das Land sich nicht ergeben sollte.
![Frauen neben einem Supermarktregal in der Ukraine Frauen neben einem Supermarktregal in der Ukraine](https://taz.de/picture/5891718/14/31386024-1.jpeg)
D er Handywecker klingelt um sechs Uhr morgens, Kiewer Zeit. Es ist mitten im Herbst, es wird erst spät hell. Noch im Dunkeln höre ich zum ersten Mal die Sirenen des Luftalarms. Seit einigen Wochen nehmen die Menschen in der ukrainischen Hauptstadt diese Sirenen wieder sehr ernst, denn im Oktober hat Russland die Ukraine massiv mit Raketen beschossen. Eine davon traf das Stadtzentrum von Kiew. Unterschiedlichen Angaben zufolge starben dabei zwischen fünf und acht Menschen. Russische „Präzisions“-Waffen haben auf gewöhnlich „präzise“ Weise Zivilisten getötet, damit sich russische Propagandisten darüber freuen können, dass es „begonnen“ habe mit den „Luftangriffen auf die Entscheidungszentralen“.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Heute hat Russland die ukrainische Hauptstadt „präzise“ mit iranischen Kamikaze-Drohnen angegriffen. Die erste Explosion, die sich wie ein Donnergrollen anhörte, ereilte mich im Badezimmer. Die zweite, als ich gerade das Haus verließ. Als ich schnell in Richtung Metro gehe, höre ich einige Schüsse. Sie versuchen, tieffliegende Shahed-Drohnen mit Gewehren abzuschießen, zum Teil mit Erfolg. Aber jetzt höre ich noch zwei Explosionen. Die Erde bebt nicht – es ist also immerhin keine Rakete. Aber instinktiv ziehe ich den Kopf ein und beschleunige meine Schritte.
Die Menschen beschreiben das Geräusch der Shahed-Drohnen als eine Art Brummen, ähnlich dem eines Rasenmähers. Scherzhaft werden die Drohnen deshalb auch „Moped“ genannt. Eins dieser „Mopeds“ fiel gestern auf ein Wohnhaus. Aus den Ruinen haben Rettungskräfte vier Leichen geborgen, die anderen Bewohner konnten gerettet werden. Ich bin drei Stunden lang Metro gefahren, um nicht auf den überfüllten Bahnsteigen zwischen anderen Schutzsuchenden zu sitzen. Als ich wieder nach draußen kam, strahlte die Sonne, für einen Oktobertag war es herrliches Wetter. Bis zum nächsten Alarm blieben noch zweieinhalb Stunden.
Ich bin davon überzeugt, dass das Thema Ukraine westlichen Lesern schon zum Hals raushängt. Ehrlich, wie viel kann man über dieses Land sagen und schreiben, wie viel Geld dafür spenden, wie viele Flüchtlinge aufnehmen und seine eigenen Bedürfnisse verleugnen, weil man plötzlich sparen muss.
stammt aus der Ostukraine und war nach Beginn des Krieges im Donbass 2014 nach Kyjiw gekommen. Am ersten Kriegstag 2022 war er nach Lwiw geflohen, nach 100 Tagen ist er zurück in Kyjiw. Er war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter Stiftung.
Schade nur, dass die Bewohner der Ukraine es sich nicht erlauben können so zu leben, als sei nichts geschehen. Es ist schon so viel passiert – und es geht weiter. Während die „Meinungsmacher“ in ihren teuren Anzügen Artikel darüber schreiben, dass die Ukraine sich ergeben solle, denn „Verstehen Sie bitte, es ist immerhin Russland…“. Allen denjenigen, die solche und ähnliche „Kompromisse“ vorschlagen, kann man eigentlich nur eins wünschen: plötzlich und unerwartet mitten in der Nacht durchs Fenster das Geräusch eines Rasenmähers zu hören.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgebracht.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
+++ Nachrichten zur Ukraine +++
Gespräche bei der Sicherheitskonferenz