Drei-Täter-These zum NSU: Die Wahrheit ist komplexer
Der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschuss fordert, dass die Bundesanwaltschaft nach möglichen weiteren Mitgliedern sucht. Zu Recht.
Endlich sagt es mal einer. Genau genommen müsste es heißen: Endlich sagt es mal wieder einer. Der eine ist in diesem Fall Clemens Binninger, Vorsitzender des zweiten NSU-Bundestags-Untersuchungsausschuss von der CDU. Er sagte in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau nämlich: „Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der NSU nicht nur aus drei Leuten bestand und dass es neben den Helfern und Unterstützern, die angeklagt sind, weil sie Wohnungen, Handys und Waffen beschafft haben, auch Mittäter gab.“
Schon im März hatte Binninger die offizielle „Drei-Täter-These“ der Bundesanwaltschaft in Frage gestellt: „Uns ist aufgefallen, dass an keinem der 27 Tatorte, die dem NSU zugerechnet werden, DNA von Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gefunden wurde, dafür aber anonyme DNA.“
Er und der Untersuchungsausschuss waren schon damals der nicht ganz abwegigen Meinung, dass man der Frage nachgehen müsse, ob tatsächlich gefundene DNA an Tatorten möglicherweise von Mittätern stammen könne. Seit dem Auffliegen des NSU 2011 gibt es laut Bundesanwaltschaft 43 neue DNA-Spuren, die Ermittler nicht zuordnen können: Etwa im ausgebrannten Wohnmobil und an Gegenständen, die man in der von Zschäpe angezündeten Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße fand. Zudem sind aus den Ermittlungen vor 2011 bisher nicht zugeordnete DNA-Spuren an 27 Tatorten und nicht zuletzt den Tatwaffen bekannt.
Wie viele ungeklärte DNA-Spuren es genau gibt, kann die Bundesanwaltschaft laut Binninger selbst nicht sagen. Bleibt die Frage, warum die Bundesanwaltschaft apodiktisch an der Hypothese festhält, dass nur drei Täter für zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und fünfzehn Banküberfälle verantwortlich seien. Ein möglicher Grund: Es ist juristisch viel einfacher, wenn man nur gegen drei mutmaßliche Haupttäter, von denen zudem zwei tot sind, und vier Mitangeklagte ermitteln muss. Ein Urteil könnte so juristisch eine Wahrheit darüber festschreiben, was der NSU eigentlich war oder ist – vermeintlich nämlich eine separate Zelle mit kleinem Unterstützerkreis.
Dem widerspricht nicht nur Binninger. Auch zahlreichen Journalisten, Aufklärungsblogs und Beobachtern bleibt unbegreiflich, warum die Bundesanwaltschaft dogmatisch an der Trio-These festhält. Denn circa 100 Kontaktpersonen werden dem NSU-Umfeld zugerechnet. Nur bei 19 prüften die Ermittler, ob sie als Verursacher der nicht zugeordneten DNA in Frage kämen. Heißt auch: „Von 81 Personen wurden keine DNA-Proben genommen“, wie Binninger sagte. Zwar könne man nur Beschuldigte zwingen, eine Probe abzugeben – „aber man muss die restlichen Personen doch wenigstens fragen, ob sie es freiwillig tun“.
Indizien auf Mithilfe und sogar Mittäterschaft
Schon 1998, kurz vor dem Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe, fand die Polizei bei der Durchsuchung ihrer Bombengarage eine Liste mit Kontaktdaten von Personen. Darauf finden sich unter anderem Personen in Nürnberg und Heilbronn – spätere Tatorte des NSU. Böhnhardt konnte damals trotz eines gültigen Haftbefehls von der Garagendurchsuchung fliehen.
Bei vielen mutmaßlichen Taten des NSU finden sich Indizien auf Mithilfe und sogar Mittäterschaft der lokalen rechten Szene. Fragwürdig ist auch immer wieder die Rolle des Verfassungsschutzes.
Etwa beim Bombenanschlag in der Kölner Probsteigasse: Dort habe ein Mann eine Bombe in einer Christstollen-Verpackung abgegeben, dessen Täterbeschreibung laut Aussagen der Opfer weder auf Böhnhardt noch Mundlos passt. Außerdem fanden in sich an dem unscheinbaren Lebensmittelladen keine erkennbaren Hinweise auf die iranische Herkunft der Betreiber. Woher sollten Mundlos oder Böhnhardt davon wissen?
Beim Mord an Halit Yozgat in einem Kasseler Internet-Café war mit Andreas Temme sogar ein Mitarbeiter des Verfassungsschutzes anwesend, der von den Schüssen nichts mitbekommen haben will. Yozgats Angehörige sind im NSU-Prozess Nebenkläger. Ihr Rechtsanwalt Alexander Kienzle hat eine Erklärung dafür, dass die Bundesanwaltschaft an der Drei-Täter-These festhält. Er sagte: „Es dient der Komplexitätsreduktion. Die juristische Aufklärung hat mit der wahrheitssuchenden Aufklärung, wie die Öffentlichkeit und meine Mandanten sie erwarten, eher wenig zu tun.“
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