Dokumentarfilm zu Kolonialverbrechen: Den Ahnen Frieden schaffen
Der Film „Das leere Grab“ begleitet Familien, die nach Überresten ihrer Vorfahren suchen. Und zeigt die Folgen deutscher Kolonialverbrechen.
Ein Name steht auf dem hellen Grabstein in der roten Erde: Nduna Songea Mbano. Drumherum ist eine große Gruppe bunt gekleideter Menschen zu sehen, von denen einige mit Zweigen die ebenfalls aus roter Erde bestehende Oberfläche des Grabes von Blättern und Schmutz befreien.
„Hier liegst du, unser Vater Mbano“, sagt eine Stimme aus dem Off. „Du, der du uns alles gegeben hast. Unser Vater, der du uns das Leben gegeben hast. Wir, deine Kinder, sind heute an deinem Grab, um dich zu fragen, ob wir dir Unrecht getan haben. Wenn ja, vergib uns. Unsere Gebete hallen bis Europa, wo die Weißen deine Gebeine haben. Hier schläfst du, aber dein Kopf ist dort. Die Weißen haben ihn genommen. Vergib uns, wenn wir dir Unrecht taten.“ Dann sehen wir einen auf das Grab gestützten älteren Mann, der diese Worte spricht. Und den Kopf eines jungen Mannes im Profil.
Der junge Mann ist John Makarius Mbano, der Urenkel von Nduna Songea Mbano und einer der Helden dieses Films. Er will im Auftrag seiner Familie aus der Stadt Songea, das nach seinem von deutschen Kolonialtruppen ermordeten Großvater benannt ist, ins ferne Berlin reisen. Denn dort vermutet die Familie den verschollenen Schädel ihres Ahnen. Herausgefunden haben sie jedenfalls, dass der damalige Abteilungsdirektor des Königlichen Museums für Völkerkunde, Felix von Luschan, Mbanos Schädel für seine wissenschaftliche Sammlung angefordert hatte – eine auch bei anderen Opfern kolonialer Gewalt übliche Praxis.
Denn Nduna Songea Mbano war – wie auch sechs weitere Mitglieder der Familie und siebenundsechzig andere Bewohner seines Heimatorts – im Februar 1905 im Maji-Maji-Krieg des sogenannten Deutsch-Ostafrika als ein Anführer der Aufständischen gegen die von der Kolonialmacht verhängten Zwangsmaßnahmen vor den Augen von Mitbürgern und Angehörigen erhängt worden.
Aufgeschobene Trauer
Aus dem Galgenbaum mitten im Dorf ist mittlerweile eine Gedenkstätte geworden, Mbanos Grab nicht weit entfernt. Doch alle Anläufe der Familie, den Schädel ausfindig zu machen und das „niemals endende Begräbnis“ endlich zu befrieden, blieben bisher erfolglos: So nennt die Familie den nun schon über hundert Jahre währenden Zustand des Leidens, das dem Ahnen den spirituell erstrebten ewigen Frieden verwehrt und die Familie daran hindert, mit dem Trauern zu beginnen.
Nach langer Suche fündig geworden ist dagegen die Familie von Ernest Daniel Kaaya aus Meru am Kilimandscharo, die ebenfalls Jahre lang vergeblich nach den sterblichen Überresten ihres im Krieg ermordeten Ahnen Mangi Lobulu Kaaya geforscht hat. Doch dann kam wirklich ein Brief aus den USA, dass die Gebeine (wie viele andere auch) aus Berlin dorthin verkauft worden waren und sich nun im American Museum of Natural History in New York befinden.
„Der erste Meru in Amerika, auch wenn er tot ist“, witzeln die Nachfahren beim Vernehmen der guten Nachricht. Doch mit diesem Wissen ist Lobulu noch längst nicht zu Hause angekommen. Und die tansanischen Behörden lassen sich bei ihren diplomatischen Aktionen nicht in die Karten schauen.
Anerkennung des kolonialen Unrechts
Unterstützt werden beide Familien bei ihrer Unternehmung von dem Aktivisten Mnyaka Sururu Mboro, der den Berliner Pol des Films markiert. Dort kämpft Mboro mit der Initiative „Berlin Postkolonial“ und einigen MitstreiterInnen seit Jahrzehnten auf vielen Ebenen für die Anerkennung kolonialen Unrechts des deutschen Kaiserreiches und macht sich unter anderem für die Umbenennung nach Verbrechern wie Carl Peters oder Gustav Nachtigal benannter Straßen im sogenannten Afrikanischen Viertel von Berlin-Wedding stark.
Mboros Urgroßvater, so erzählt er, war zur Kolonialzeit zwangsverpflichtet worden zum Bau der zum Abtransport von Rohstoffen errichteten Usambarabahn und wurde dann wegen Sabotage exekutiert.
Mboro bekennt auch deutlich – stellvertretend für viele – seine Wut. Und benennt den Rassismus in Deutschland von heute: Etwa, dass sich die Einstellung Berliner Verwaltungen gegenüber seinen Initiativen erst dann deutlich verbesserte, als auch Weiße AktivistInnen Teil des Teams wurden. Er bespricht mit einer ethnisch erstaunlich undivers besetzten Berliner Schulklasse die kolonialen Verbrechen. Und reist dann mit Mitstreiter Konradin Kunze und einem interaktiven Ausstellungsprojekt direkt nach Meru.
John Mbano und Cecilia Mollel kommen im Verlauf des Films wirklich nach Berlin und nehmen dort an der symbolischen Umbenennung der Petersallee in Maji-Maji-Straße teil. Beim Besuch der Afrika-Abteilung des Humboldt Forums gibt ein erstes Amüsement über das Setting und Stolz über die eigene Kultur bald der Bestürzung Raum, als sie mit einer Ansammlung unterschiedlichster Götterfiguren und Sakralgegenständen konfrontiert werden, die in einen Glaskasten gequetscht sind.
Zurückhaltend inszeniert
Dafür gibt sich die grüne Staatsministerin des Auswärtigen Amts, Katja Keul, bei einem Treffen glaubwürdig betroffen, lernbereit und verbindlich – und offenbart sich als Nachfahrin früherer Kolonialtäter. Auch im Depot des aufwendig neu gebauten Archäologischen Zentrums der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, das Teile von Luschans Sammlung übernommen hat, gibt man sich rücksichtsvoll und kooperativ. John Mbano kann vor Ort und diskret (aber vor der unsichtbaren Filmkamera) eine DNA-Probe zur Ermittlung eventueller Verwandtschaftsbeziehungen abgeben.
„Das leere Grab“. Regie: Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner. Deutschland/Tansania 2024, 97 Min
Das junge deutsch-tansanische Regieduo aus Cece Mlay und Agnes Lisa Wegner bleibt auch sonst im Hintergrund und zieht die Fäden zurückhaltend wie der dortige Kustode, der später draußen im Flur wartet, als John Mbano und Cecilia Mollel endlich mit den Schädeln ihrer eventuellen Vorfahren kommunizieren und ein Gebet sprechen. Dabei verknüpft die musikalisch unterstützte Montage von Donni Schoenemond (Musik: Hannah von Hübbenet) beobachtende Szenen und Interviews zur Vermittlung von Sachwissen so klug, dass ein anregend dichtes, aber nie einengendes Geflecht an Informationen, Assoziationen und Querverweisen entsteht und zum Weiterforschen einlädt.
Die Frage, warum dieser so essenzielle und lange Zeit vernachlässigte Aspekt der deutschen Geschichte bis jetzt im regulären Schulunterricht der meisten Bundesländer kaum vorkommt, wird im Film mehrfach von verschiedenen Seiten angesprochen. Dabei würde sich „Das leere Grab“ (der auch Cecilia Mollel als Lehrerin zum Thema Kolonialgeschichte zeigt) sicherlich selbst gut zum Einsatz in pädagogischen Kontexten eignen.
Vor allem aber ist die überzeugende Arbeit ein wichtiger und bewegender Dokumentarfilm über die langen familiären Folgen deutscher Kolonialverbrechen. Am Ende bekommt Cecilia Mollel noch ein Kind. Und als Bundespräsident Steinmeier im November 2023 zum Staatsbesuch nach Tansania reist, steht nach einem Auftritt im Parlament mit Präsidentin Samia Suluhu Hassan auch ein offizieller Besuch in Songea auf dem Plan.
Dort werden aus diesem Anlass Pavillons in tansanischen Nationalfarben aufgebaut und die Gräber frisch gestrichen. Als die Eskorte bei der Maji-Maji-Gedenkstätte vorfährt, wartet auch John Mbano dort. Steinmeier legt Blumen am Grab nieder, redet von Scham und verspricht der Familie Mbano, alles in seiner Macht Stehende für die Suche nach ihrem Ahnen zu tun.
John Mbano nimmt dieses Versprechen ernst. Doch bei den auf der Tonebene eingeblendeten lokalen Radiokommentaren steht auch die Frage nach möglichen Reparationen im Raum.
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