Dokumentarfilm von Claude Lanzmann: Porträt eines Tigers
In seinem neuen Film „Le dernier des injustes“ spricht Claude Lanzmann mit Benjamin Murmelstein, einst Vorstand des Judenrats von Theresienstadt.
In Minute zehn füllt ein Schwarzweißfoto die Leinwand. Es zeigt einen schlammigen Weg, darauf ein Pulk von etwa 200 Menschen, aufgenommen in der Nähe der tschechischen Ortschaft Terezín. Auf der Fotografie steht ein Einzelner neben der Menschengruppe, er schaut in Richtung Kamera und trägt eine Armbinde, das Abzeichen ist nicht zu entziffern.
Ein Archivbild wie dieses wäre nichts Ungewöhnliches für jeden anderen Dokumentarfilm mit historischem Sujet. Für Claude Lanzmanns jüngsten Film „Le dernier des injustes“, der Benjamin Murmelstein, den Vorstand des Judenrats von Theresienstadt, porträtiert und am Sonntag in Berlin seine deutsche Erstaufführung erlebt, ist es eine Sensation. Denn bis dato hat sich der Pariser Filmemacher, dessen „Shoah“ (1985) einen Meilenstein in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust bildet, dem Archivbild verweigert.
Unter anderem deshalb, weil Archivmaterial oft die Perspektive der Täter wiedergibt und weil es den Eindruck erweckt, man müsse etwas beweisen. Wer aber nun meine, Beweise für den Holocaust anführen zu müssen, so die Argumentation, tappe schon in eine Falle, denn die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten ist eine Tatsache von so fundamentaler Unumstößlichkeit, dass Beweisen etwas Unziemliches eignet.
„Le dernier des injustes“. Regie: Claude Lanzmann. Dokumentarfilm, Frankreich/ Österreich 2013, 220 Min., am 24. 11. um 14 Uhr im Arsenal-Kino in Berlin.
Vor gar nicht so langer Zeit wurde diese Debatte noch erbittert geführt. Der Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman veröffentlichte 2004 sein Buch „Images malgré tout“ („Bilder trotz allem“), darin setzte er sich mit Fotografien auseinander, die Angehörige eines Häftlings-Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau aufgenommen hatten. Unter Einsatz ihres Lebens und aus großer Distanz fotografierten sie, wie andere Häftlinge Leichen in Massengräbern verscharrten. Dafür wurde Didi-Huberman in der von Lanzmann herausgegeben Zeitschrift Les temps modernes scharf angegriffen.
Szenen aus NS-Propaganda
Heute scheint sich Lanzmann vom einstigen Dogma so weit gelöst zu haben, dass er in „Le dernier des injustes“ („Der letzte der Ungerechten“) einiges an Archivmaterial verwendet, vor allem Zeichnungen der Häftlinge von Theresienstadt, aber auch Szenen aus einem nationalsozialistischen Propagandafilm. Alte Herren spielen Schach, und in einer Werkstatt schneiden gut gelaunte Arbeiter und Arbeiterinnen Leder für Schuhe zu. Es sind Inszenierungen der Nazis. Ihr Zweck war es, die internationale Gemeinschaft zu täuschen.
Auf einer der historischen Aufnahmen sieht man die Hauptfigur des Films. Benjamin Murmelstein war Rabbiner in Wien, nach dem Anschluss Österreichs war er für die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ tätig, der Adolf Eichmann vorstand. Später gehörte er zum Judenrat von Theresienstadt, im Herbst 1944 schließlich übernahm er dessen Leitung.
Das Thema der Judenräte war lange Zeit noch viel heikler als das der Archivbilder – man denke nur an die erbitterten Diskussionen, die Hannah Arendt mit ihrem Buch „Eichmann in Jerusalem“ (1963) und der darin enthaltenen Kritik am Vorgehen der Judenräte auslöste.
Zwischen Widerstand und Willfährigkeit
Für die einen stand fest, dass die Judenräte durch ihre Verwaltungstätigkeiten der Vernichtungspolitik der Nazis zuarbeiteten, für die anderen waren sie diejenigen, die das Schlimmste zu verhindern suchten. Jüngere Studien wie etwa die des Historikers Yehuda Bauer kommen zu dem Schluss, dass sich Judenräte von Ort zu Ort unterschiedlich verhielten – zwischen Widerstand und Willfährigkeit war das Feld weit.
Benjamin Murmelstein saß nach dem Krieg 18 Monate in Prag im Gefängnis, da ihm Kollaboration zur Last gelegt wurde. Als der Prozess gegen ihn endlich stattfand, wurde er von allen Anklagepunkten freigesprochen. Lanzmann interviewte ihn 1975 in Rom. Ursprünglich waren die Aufnahmen für „Shoah“ geplant, doch da „Shoah“ um die Toten kreist, wäre Murmelstein, pragmatisch und munter, wie er ist, aus dem Rahmen gefallen. Das Material lag brach.
In den Interviewsequenzen ist meist Murmelstein in Nahaufnahme zu sehen, Lanzmann ist über seine Stimme und den Rauch seiner Zigarette präsent. Murmelstein ist eloquent, um Metaphern und Analogien nie verlegen, gern rekurriert er auf Literatur und Mythologie. Seine Ausführungen bergen viele Details, die Aufschluss darüber geben, wie die Nazis den Holocaust organisierten.
Studium der Auswanderung
Ihnen eignet aber auch eine Ambivalenz – etwa wenn Murmelstein über die Jahre 1938 und 1939 sagt: „Eichmann hat bei mir Auswanderung studiert.“ Lanzmann bemerkt einmal konsterniert: „Wenn man Sie sprechen hört, hat man nicht den Eindruck, das Theresienstadt ein Ort des Unglücks war.“
In einigen Sequenzen geht Lanzmann selbst durch Theresienstadt. Durch leer stehende Häuser streift er, man sieht ihm die Anstrengung an, wenn er die Treppen bis zum Speicher hinaufsteigt. Einst lagen hier die Alten, erklärt er, unfähig, sich aufzurichten, von Läusen und der Sommerhitze geplagt, ohne Waschbecken, ohne Toilette. Seine Sätze fallen einem wieder ein, wenn Murmelstein zwei Stunden später sagt: „Wir haben mustergültige Altenheime aufgebaut“ und von den sauberen Laken und den Pflegern schwärmt.
Obwohl er solche Ambivalenzen zum Vorschein bringt, verneigt sich „Le dernier des injustes“ tief vor seiner Hauptfigur. „Sie sind ein Tiger“, sagt Lanzmann in der letzten Szene zu Murmelstein.
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