Dokumentarfilm aus Italien: Normalität ist absurd
Welche Standards gelten in der heteronormativen Gesellschaft? Das untersucht die Filmemacherin Adele Tulli in ihrem Dokumentarfilm „Normal“.
Alma sollen Ohrlöcher gestochen werden. „Du bist so schön, so brav, einfach wunderbar!“, ermutigen der Juwelier und die Mutter das beängstigte Kind. Und plötzlich: Klack! Die Ohrlochpistole schießt zwei goldene Schmuckstücke in Almas Fleisch. Es schmerzt. „Jetzt bist du ein Mädchen mit Ohrringen, so wie Mama!“, sagt die Mutter und scheint damit zu meinen: Jetzt bist du ein richtiges Mädchen, jetzt bist du „normal“.
„Normal“ ist ein diskriminierendes Wort. Bezogen auf einen vermeintlichen Standard grenzt es ab und aus. Ausgerechnet dieses Wort ist der Titel des als PhD-Projekt entstandenen Dokumentarfilms der italienischen Filmemacherin Adele Tulli.
Die inflationäre Verwendung des Begriffs in der öffentlichen Debatte in Italien gab ihr den Anstoß, die Normalitätsvorstellung in der heteronormativen Gesellschaft filmisch zu hinterfragen. Diese ruht auf einer anhand primärer Geschlechtsmerkmale definierten binären Ordnung und auf vorgefertigten Rollenbildern für Frauen und Männer, an die es sich anzupassen gilt – so bekommen wir es vermittelt, und zwar schon als Kinder.
So präsentiert Tulli das Ohrlochstechen und die Teilnahme an Motorradrennen als geschlechtsspezifische Rituale. Rosa Plastikbügelsets und mit dem Satz „men at work“ beschriftete Werkzeugkästen, auf deren Deckel ein Junge abgebildet ist, zeigen außerdem, dass sogar Spielzeuge das Menschenleben in sexistische Rollenvorstellungen drängen können.
Geschlecht als Performance
Tulli reiht die in ruhigen, ästhetisierenden Einstellungen gedrehten, voneinander gelösten Szenen aneinander und verzichtet in der Montage auf einordnende Kommentare und Talking Heads. Dadurch werden altbekannte Bilder entfremdet und die Konstruktion von Weiblichkeit und Männlichkeit in ihrer Absurdität offengelegt.
Indem sich der Film von der Kindheit ausgehend in Richtung Erwachsenenalter bewegt, entfalten sich die thematisierten Geschlechternormen zunehmend in Performances. So sehen wir zu, wie junge Mütter samt Kinderwagen in synchronen Bewegungen im Park trainieren, während Männer mit Soft-Air-Waffen Krieg spielen.
Allmählich driftet das Kaleidoskop der Normalität in Richtung Horrorszenario ab. Frauen werden in Vorehekursen gemahnt, ihre Ehemänner nicht zu vernachlässigen. Ein Coach schildert, wie man zum Alphamännchen wird. Während einer Show schneidet ein Illusionist seine Assistentin in Hälften und lässt sie schließlich verschwinden – Applaus! Hier gibt sich Tullis Position zu erkennen, mündet aber bloß in eine ablehnende Feststellung des Status quo.
Die Gratwanderung gelingt nicht immer
Inspirieren ließ sich Tulli vom Dokumentarfilm „Gastmahl der Liebe“ von Pier Paolo Pasolini. 1963 reiste der Schriftsteller und Regisseur durch Italien und befragte seine Mitmenschen zu Sexualität und Tabus. 50 Jahre später ist Tulli erneut durch Italien gezogen, doch mit einem anderen Konzept. Die beruhigende Anpassung an die Norm hat sie eingefangen, nichtheteronorme Positionen hingegen bewusst ausgeschlossen.
So scheint selbst die Szene einer homosexuellen Eheschließung keinen echten Gegenentwurf darzustellen, sondern eine Anpassung an die heteronormativste Institution – die Ehe. Etwas unglücklich, dass die Sequenz hervorgehoben ans Ende des Films platziert wurde.
Zweifellos sorgt Tullis Konzept für kritische Denkanstöße zum allgegenwärtigen Normalitätskonstrukt, doch die Abwesenheit jeglicher Komplexität und der Fokus auf Kontexte geringer Bildung in den groteskesten Szenen zeugen von einem vereinfachenden, partiellen sowie elitaristischen Blick. So gelingt die Gratwanderung zwischen Infragestellung und Reproduktion der vorgeführten Stereotype nicht immer. Davon unberührt bleiben die unaufgeregteren Szenen, in denen „Normal“ die Dekonstruktion von Geschlechternormen eindrucksvoll glückt.
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