Dokumentarfilm „Palliativstation“: Reisereportage vom Übergang
Filmemacher Philipp Döring begleitet so diskret wie ungeschützt unheilbar kranke Menschen. Und er zeigt die Arbeit derer, die ihnen helfen.
An Kranksein und Tod zu denken, ist nicht angenehm. Auch wenn darauf in der modernen Gesellschaft kein Tabu im eigentlichen Sinn liegt, sind es Themen, die man eher vermeidet. Sie bleiben unerkundet. Wenn man dann selbst schwer erkrankt, kann es sich anfühlen, als ob man ein fremdes Land betritt. Der streitbare Publizist Christopher Hitchens sprach vom „land of malady“ und „Tumortown“, wohin er sich nach der eigenen Krebsdiagnose plötzlich versetzt fühlte. Es ist eine Welt mit eigener Sprache, eigenen Abläufen, eigenem Geruch und besonderen Menschen.
In der Verlängerung dieser Metapher könnte man Philipp Dörings vierstündigen Dokfilm „Palliativstation“ als Reisereportage begreifen. Es wäre schön, wenn diese Metapher den Zugang erleichtert und die Angst vorm Thema nimmt. Denn „Palliativstation“ macht das, was nur die besten Reisereportagen können: Der Film lässt an der Erfahrung, dort gewesen zu sein, teilhaben.
Mehrere Monate hat Döring in der Palliativabteilung des Franziskus-Krankenhauses in Berlin gedreht. Fast jeder hier dürfte schon mal daran vorbeigefahren sein, es liegt mitten in der alten Weststadt, unweit von KaDeWe und Zoologischem Garten. Döring beginnt seinen Film mit Aufnahmen von „draußen“, vom Tauentzien und der Kurfürstenstraße, bevor er das fremde Territorium, „the land of malady“ betritt.
Der Übergang ist so sanft wie möglich gestaltet, die Kamera ist zunächst eher Zaungast. Man schaut vom Flur in ein Krankenzimmer, wo ein Arzt mit einem Patienten spricht, den man nicht sieht und kaum hört. Der Arzt sitzt mit dem Rücken zur Kamera am Bett, aber seine an den Patienten gerichteten Erklärungen sind deutlich zu vernehmen.
„Palliativstation“. Regie: Philipp Döring. Deutschland 2025, 245 Min.
Der Inhalt seiner Erläuterung dient gleichzeitig als Einführung in die Aufgaben und Grundkonflikte der Palliativmedizin. Sie stellt eine Übergangsstation dar: Hier wird denjenigen geholfen, die den Status „unheilbar“ bekommen haben, für die es kein Zurück mehr gibt ins gesunde Leben, sondern allenfalls eine Aufschiebung vor dem Tod. Ziel ist es, die Patient*innen so gut zu versorgen, dass sie entweder gekräftigt noch einmal nach Hause können oder aber von hier ins Hospiz gehen.
Letzteres steht für die Tatsache, dass es ans Sterben geht. Auch wenn der verständnisvolle Arzt versucht, seinem Patienten die Angst vor diesem Schritt zu nehmen: Er könne auch aus dem Hospiz noch einmal nach Hause, wenn er das wolle. Es ist ihm wichtig, klarzustellen, dass der Patient ein Mitspracherecht hat.
Man begreift aus diesem überhörten Gespräch eine ganze Menge: dass jede Entscheidung in dieser Lage nur vorläufig sein kann, dass jede Besserung nur temporär ist und jederzeit mit Verschlechterungen gerechnet werden muss. Deutlich wird aber auch, wie elementar es sich anfühlt, dass die nicht mehr zu heilenden Patient*innen über die letzten Maßnahmen immer noch mitentscheiden, mitsprechen können und nicht einfach über sie hinweg verfügt wird.
Mit Einverständnis der Betroffenen gefilmt
In den vier Stunden, die Dörings Film dauert, lernt man einige wenige Patient*innen näher kennen. Es gehört Mut dazu, sich in dieser Situation von Verwundbarkeit und Schwäche filmen zu lassen. Mit Dankbarkeit registriert man Dörings Bemühen, bei aller intimen Nähe doch noch Diskretion zu wahren. Nicht alle Gespräche werden mit Mikrofon aufgenommen, manche Äußerungen bleiben ausgeblendet, und wichtiger noch: Es gibt keine „verstohlenen“ oder heimlichen Blicke. Was Döring filmt, filmte er sichtlich mit Wissen und Einverständnis der Betroffenen.
Das schafft eine Sphäre des Vertrauens auch für den Zuschauer. Döring legt es nicht darauf an, das Publikum zu schocken. Was man heraushört aus den Gesprächen über und mit den Patient*innen ist oft erschreckend genug, man braucht keine Bilder der offenen Wunden oder wachsenden Tumoren. An einer Stelle – Döring filmt immer wieder auch die Besprechungen unter Ärzt*innen oder in anderen Bereichen der Administration – werden die besonderen Anforderungen ans Pflegepersonal einer Palliativstation beschrieben. Man darf nicht zimperlich sein, hört man heraus.
Was nicht zu verwechseln wäre mit Grobschlächtigkeit. Denn andererseits ist die Bereitschaft zu Empathie absolut elementar. Dafür braucht es Zeit. Immer wieder zeigt Döring, wie das Pflegepersonal mit Handauflegen arbeitet. Die Hände signalisieren Zuwendung, Geduld, Zusprache. Auf einer Versammlung werden aber auch Klagen über den Kostendruck laut, dem auch dieses Krankenhaus ausgesetzt ist und der es dem Personal immer schwerer macht, sich die nötige Zeit für die einzelnen Patient*innen zu nehmen.
Keine falschen Hoffnungen
Die Dinge werden hier nicht schöngeredet. Im Gegenteil, Döring belässt den Gefühlen von Trauer und Schmerz ihren Raum. Unweigerlich stellen sie sich ein, wenn es kein Zurück ins Land der Gesunden mehr gibt. Betroffen sind davon nicht nur die Patienten selbst, sondern auch ihr Umfeld. Gleich in der ersten Stunde lernt man eine Frau kennen, deren große, sie belastende Sorge gar nicht sich selbst gilt, sondern ihrem Mann. Wenig später sieht man auch ihn im Beratungsgespräch, so sichtlich bestürzt, überfordert und in Trauer, dass man den Schmerz der Frau gut versteht.
„Palliativstation“ ist kein Film, der falsche Hoffnungen macht. „Es ist, was es ist“ – an einer der Stelle liest eine Pflegekraft in einer Mitarbeiterversammlung Erich Frieds bekanntes Gedicht wie ein Gebet vor: „Es ist lächerlich sagt der Stolz/Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht/Es ist unmöglich sagt die Erfahrung/Es ist was es ist sagt die Liebe“.
Empfohlener externer Inhalt
Trailer „Palliativstaton“
Die Diskretion und Zurückhaltung bei gleichzeitiger Aufgeschlossenheit und Einfühlsamkeit, die Dörings Film auszeichnen, gleichen mehr als aus, dass keine der Geschichten, die man hier mitbekommt, ein gutes Ende im traditionellen Sinn findet. Es gibt keine Wunderheilungen und auch kein „Trotz alledem“, das Menschen kurz vor dem Tod noch schnell glücklich macht. „Palliativstation“ berührt, weil er auf so ehrliche, ungeschützte Weise Essenzielles zeigt.
Medizinische Details bleiben außen vor
Da sind die Angehörigen, die sich kümmern, auch wenn sie selbst kaum mehr können – „Mein 80-jähriger Bruder!“, betont ein Kranker –, da sind aber auch richtige Katastrophenlagen: Bei einer Patientin verstirbt der Mann während ihrer Palliativbehandlung, und im ersten Schock denkt sie an Banalitäten wie die Notwendigkeit des Autoabmeldens. Aber mit schier unglaublicher Kraft fasst sie sich wieder, völlig ohne Selbstmitleid. „Ich hab ein gutes Leben gehabt“, sagt sie. Der Arzt versteht, dass es ein unglaublich hartes Leben gewesen sein muss, das sie so pragmatisch werden ließ.
Die medizinischen Details und Einzeldiagnosen lässt der Film außen vor. Döring konzentriert sich auf das Gefühl der einzelnen Patient*innen. Ein Herr trauert darum, dass ihm der normale Bezug zur Zeit verloren gegangen ist. Immer öfter weiß er gar nicht, wie spät es ist. Ob es ihm besser geht, wenn immer wieder jemand reinschaut und ihm den Tag und die Uhrzeit sagt? Der kluge Arzt hört die Angst vor dem Selbstverlust heraus und versucht, ihm zu versichern, dass er er selbst bleibe, auch wenn er schwächer wird, auch wenn der Tod näher kommt.
Zweifellos löst „Palliativstation“ nicht nur angenehme Gefühle aus, aber ihre Intensität steht für eine tiefe Erfahrung. Und nicht zuletzt ist Dörings Dokumentation ein ungeheuer wichtiger Film gerade in diesen Zeiten, in denen mancherorts die „Effizienz“ von medizinischer Versorgung für Alte und Todkranke angezweifelt wird.
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