Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“: Im Kampf mit sich selbst
Der Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“ folgt einem Jugendlichen aus Berlin-Marzahn. Von der Kindheit geht es in der Jugend in den Knast.
Als Kalle jung ist, sagt er einmal: „Ich will kein Ghettojunge werden.“ Und auf die Nachfrage, was er damit meint: „Na Alkohol, Drogen, Knast, all das.“ Ein paar Jahre später ist dann passiert, was er auf keinen Fall wollte. Er hat Drogen genommen, er ist ausgerastet und ist auf Ecstasy mit dem Dönermesser auf einen Mann losgegangen.
Das ist nicht der Beginn seiner Geschichte als Gangster, aber nun kommt er, knapp über siebzehn, nach Plötzensee in den Knast, für zweieinhalb Jahre. Wie aus dem jungen Kalle – eigentlich heißt er Pascal – der ältere wurde, aus einem, der vom Leben was wollte, einer, der an sich fast verzweifelt, das verfolgen, ohne zu behaupten, es erklären zu können, Christine Kugler und Günther Kurth in ihrem Dokumentarfilm „Kalle Kosmonaut“.
Der Titel des Films verdankt sich dem Ort. Kalle wohnt mit seiner Mutter und deren Partner in einem der Hochhäuser mit Blick auf die Allee der Kosmonauten in Berlin-Marzahn. Autos fahren vorbei, die Tram fährt vorbei, die Straße ist breit, der Blick weit, er fällt nur auf nichts, das man in einem traditionellen Sinn schön nennen würde.
Man sieht die nächtlichen Straßen, Gespräch mit einer Polizistin und einem Polizisten im Auto, darum herum Teer und Beton und das gelbliche Ostlicht. Man sieht den Plattenbau der Beatrix-Potter-Schule, auf die Kalle als Grundschüler geht. Man sieht Skateranlagen, die nicht besonders in Schuss sind.
Was fehlt, was subjektiv sehr schmerzlich fehlt, Kalle sagt es wieder und wieder: ein Vater. Den hat er als Kind mal gesehen, dann nichts mehr gehört. Es klingt nicht so, als gäbe es viel Streit mit dem neuen, jungen Partner der Mutter, aber ein Vaterersatz ist er nicht.
Vom Nichtstun im Knast gequält
Auch die Großeltern lernt man kennen, sie wohnen wohl um die Ecke, der Großvater erzählt, wie er nach der Wende seinen Job verlor und keinen mehr fand. Die Großmutter hat vor sieben Jahren, sagt sie, dem Alkohol abgeschworen. Die Mutter sieht man einmal in einem Warenlager, später verkauft sie Obst und Gemüse aus einem Transporter heraus.
Im Zentrum des Films jedoch: Kalle. Er lässt die Filmemacher nahe heran, er ist ohnehin, zunächst jedenfalls, der nahbare, offene Typ. Elf ist er, als sie ihn kennenlernen, im Lauf der Jahre kehren sie wieder, am Ende des Films ist er zwanzig, gelegentliche Einblendungen, wie viel Zeit vergangen ist, sonst wird von den genaueren Umständen gar nichts und damit manchmal doch entschieden zu wenig erläutert. Eine Freundin, noch eine Freundin, ein Kind. Manche Lücke wird durch etwas arg poetische Animationen von Alireza Darvish gefüllt, die Zelle im Knast, wo ihn das Nichtstun gequält hat.
Wie er der wurde, der er nicht werden wollte: Das kann sich Kalle selbst nicht erklären. Er sieht sich im Kampf mit sich selbst, mit etwas in sich, über das er die Kontrolle nicht hat. Das, dieses Ringen eines Individuums mit sich selbst, bleibt der Fokus des Films.
Die Zukunftsperspektive: Ghettokind
„Kalle Kosmonaut“ (D 2022, Regie: Christine Kugler, Günther Kurth). Die DVD ist ab rund 17 Euro im Handel erhältlich.
Man sieht den Ort, an dem Kalle lebt, man sieht sehr ausschnitthaft etwas von den Verhältnissen, die seine Welt sind. Die Zukunftsperspektive Ghettokind ist sozial vorgegeben. Dass das Scheitern Schuld des Individuums ist, hat Kalle als Ideologie internalisiert, auch wenn er für die Idee, dass der Knast bei der Resozialisierung helfen soll, nur Hohn übrig hat.
Der Film teilt diese Blindheit. Vielleicht griffe jede Erklärung in neunzig Minuten zu kurz. Vielleicht ist die Hilflosigkeit des Films, die aus seiner Beschränkung, seinem Griff nach emotionalisierender Musik, den Animationen spricht, nur zu realistisch. Warum einer wie Kalle kaum eine Chance hat, liegt einerseits auf der Hand. Was zu tun wäre, dass es anders hätte kommen können: ein sehr weites Feld.
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