Dokument: Rede bei der Anti-Haider-Demonstration in Wien: Ein Aufstand der Zivilgesellschaft
Wir stehen heute hier, weil wir eine Regierung haben, die Unglück und Schande über dieses Land gebracht hat. Aber wir wollen genau sein: Wir stehen hier, weil wir dafür sorgen wollen, dass diese Regierung, die Unglück und Schande über dieses Land gebracht hat, nicht mehr lange die Regierung dieses Landes ist.
Man sagt uns, diese Regierung hat eine Mehrheit im Parlament. Das ist sicherlich richtig. Aber demokratische Legitimität hat diese Regierung deswegen noch lange nicht. Wer am 3. Oktober ÖVP und FPÖ gewählt hat, der hat nicht dafür gestimmt, dass dieses Land zum Paria Europas gemacht wird. Herr Schüssel und Herr Haider, Sie mögen zwar eine mathematische Mehrheit im Parlament haben – aber für das, was Sie angerichtet haben, haben Sie nie eine Mehrheit erhalten, und Sie haben dafür auch heute keine Mehrheit.
Stellen Sie sich dem Votum des Volkes. Sie haben das Land gespalten, Sie wollen ihm eine Wende in die Vergangenheit verordnen, Sie haben es in die Totalisolation geführt und sagen nun, es gäbe keinen Grund für Neuwahlen. Ich frage Sie: Wenn die Krise, die Sie verursacht haben, kein Grund für Neuwahlen ist, was um alles in der Welt ist dann ein Grund für Neuwahlen in einem demokratischen Land?
Wir haben keine Angst vor dem Volk. Wir fürchten Neuwahlen nicht. Es ist einiges in Bewegung gekommen in diesem Land. Heute stehen hier, um nur ein Beispiel zu nennen, mindestens 300.000 Menschen. Und wenn unsere Kampagne, die zur ersten Großkundgebung am 12. November geführt hat, in führenden internationalen Zeitungen „Aufbruch der Zivilgesellschaft“ genannt wurde, was ist das dann, was seit drei Wochen in diesem Land stattfindet? Das ist ein regelrechter „Aufstand der Zivilgesellschaft“.
Und dieser Aufstand gibt uns auch die Chance, für eine neue Mehrheit in diesem Land zu kämpfen. Es gibt keinen Grund für Mutlosigkeit, wir können eine neue Mehrheit, eine Mehrheit jenseits von Schwarz und Blau, schaffen, wir müssen sie nur entschieden wollen, wir müssen für sie werben, auf den Straßen und Plätzen dieses Landes.
Wir, das Volk, wir haben in den vergangenen Wochen die Straßen und Plätze in dieser Stadt erobert und besetzt, und die, die sich Regierung nennen, sind in den Untergrund geflüchtet, in die Katakomben dieser Stadt. Herr Schüssel hat einen unserer Mitaktivisten angerufen und gefragt, wann denn das aufhört mit den Demos. Wir wollen diese Frage von hier aus beantworten: Das hört sehr schnell auf, wenn Sie wollen, Herr Schüssel. Sie müssen nur zurücktreten, dann hört das ganz schnell auf mit den Demos. Wenn Sie aber den Weg für einen demokratischen Neubeginn nicht freigeben, weiter an Ihrem Stuhl kleben, dann werden wir eben weiter demonstrieren, jeden Donnerstag, Treffpunkt 19 Uhr am Ballhausplatz.
Aber wir wollen, und das ist uns sehr wichtig, nicht nur diese Regierung loswerden und durch eine neue ersetzen. Wir von der „Demokratischen Offensive“ und Sie alle hoffentlich mit uns, wir werden Politik nie mehr wieder allein an etablierte politische Kräfte delegieren. Wir wollen eine neue Mehrheit jenseits von Schwarz und Blau im Parlament, aber wir wollen auch eine neue gesellschaftliche Mehrheit für ein soziales, gerechtes Österreich. Wir wollen, dass es endlich wieder gerecht zugeht in diesem Land. Wir bekämpfen diese Regierung, weil eine Rassistenpartei an ihr beteiligt ist, aber wir bekämpfen sie auch, weil sie Ungleichmacherei zu ihrem Programm gemacht hat und die Gewerkschaften zerstören will. Das werden wir nicht zulassen.
Wir haben schon viel erreicht. Hier stehen heute Schulter an Schulter: Schriftsteller und Metallarbeiter, Umweltaktivisten und Gewerkschafter, Parteifunktionäre und Unabhängige, Straßenbahner und Schwarzfahrer, Österreicher und Einwanderer, französische Schauspieler und Waldviertler Bauern. Und uns gegenüber – die Regierung.
Diese Regierung ist schwach, niemand will sie, die ganze Welt verabscheut sie. Herr Schüssel, Herr Haider, hören Sie gut zu: Sie werden sich warm anziehen müssen. Es wird viel Wind geben. Er wird Sie aus dem Kanzleramt blasen, so schnell können Sie gar nicht schauen. Robert Misik
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