Dokudrama über SS-Gefangene: Unterwegs ins Ungewisse
Das Ende des Zweiten Weltkriegs jährt sich bald zum 70. Mal. „Wir, Geiseln der SS“ widmet sich der Odyssee von Sonderhäftlingen im April 1945.
Eine Reise, die womöglich in den Tod führt – das mussten die meisten der rund 140 „Sippen- und Sonderhäftlinge“ befürchtet haben, als sie in den letzten Kriegstagen im KZ Dachau von der SS in Busse verladen werden, um eine Fahrt mit unbekanntem Ziel nach Süden anzutreten. Die Dokumentation „Wir, Geiseln der SS“ der Gebrüder Beetz zeichnet heute Abend auf Arte die dramatischen Geschehnisse im April 1945 noch einmal nach.
Der französische Ministerpräsident Léon Blum, der ehemalige österreichische Kanzler und „persönliche Gefangene Adolf Hitlers“, Kurt Schuschnigg, samt Familie, Pfarrer Martin Niemöller, der Kriegsgefangene und Royal-Air-Force-Pilot „Jimmy James“ (dessen zahlreiche Fluchtversuche später in „Gesprengte Ketten“ mit SteveMcQueen verfilmt werden), Angehörige der Familien Goerdeler und von Stauffenberg – sie sind nur einige der Verschleppten, die von den Nazischergen angesichts der drohenden Kriegsniederlage „auf Transport“ geschickt werden.
Das Ziel: die „Alpenfestung“. Während die Gefangenen über ihr Schicksal rätseln, kommen vom Chef des Sicherheitshauptamtes Ernst Kaltenbrunner klare Vorgaben: Wenn die Gruppe der prominenten Geiseln nicht für Verhandlungen mit den Alliierten genutzt werden kann, soll sie ermordet werden. Und das, obwohl sich unter den Reisenden Kinder befinden.
So wie Sibylle-Maria Beckmann. Die Tochter von Wehrmachtspfarrer Johannes Schröder, der aus russischer Kriegsgefangenschaft zum Widerstand gegen die Nationalsozialisten aufrief, ist damals noch nicht einmal fünf Jahre alt. Aber der Leidensweg der Familie Schröder beginnt schon viel früher, im Herbst 1944. Obwohl sie nur „punktuelle Erinnerungen“ hat, sind ihr verschiedene Szenen bis heute unvergesslich: „Ich sehe noch vor mir, wie es an unserer Tür in Neumünster klingelt. Meine Mutter geht zur Tür und vor ihr stehen zwei SS-Männer, die sie auffordern, für meine Brüder und mich sofort zu packen.“
Arte, Dienstag, 7. April, 20.15 Uhr.
In „Sippenhaft“
Die Mutter wird in ein Gefängnis verbracht, die beiden Brüder in ein NSDAP-Kinderheim nach Heiligenhafen, das Mädchen in ein Kinderheim nach Segeberg. Zu Weihnachten darf die Familie zwar wieder nach Hause, aber auch das ist nicht von Dauer. Im Januar erscheint erneut die Gestapo und bringt Mutter und Kinder als „Sippenhäftlinge“ ins Konzentrationslager Buchenwald. „Es war grauenhaft, die täglichen morgendlichen Erschießungen, die wir dort hörten“, erinnert sich die Zeitzeugin. Später werden sie und ihre Angehörigen ins Konzentrationslager Dachau verlegt.
Auf dem Weg dorthin erlebt sie etwas Sonderbares, das sie nie vergessen wird: „Ich weiß nicht, wie es möglich war, aber in unser Quasigefängnis, einem alten Schulgebäude, kam ein kleines Mädchen mit einem Puppenwagen herein. Und unter der Matratze des Puppenwagens hatte ihre Mutter eine riesige Wurst versteckt – das war ein wunderbares Erlebnis.“
Als die Odyssee der „Sippen- und Sonderhäftlinge“ in Dachau schließlich beginnt, ist auch für das kleine Mädchen die „unglaubliche Angst“ spürbar, die in der Gruppe herrscht: „Aber unsere Mutter hat uns so viel Schutz gegeben, sie hat immer versucht, uns eine Art normales Leben zu ermöglichen, uns abzuschirmen, soweit es ging, etwa von den teilweise entsetzlichen Anblicken in den verschiedenen Lagern.“
Während der Irrfahrt, die über die Alpen bis nach Tirol führt, so der Rückblick von Sybille-Maria Beckmann, waren die Versuche der Kabarettistin Isa Vermehren, ihre Mitgefangenen mit Liedern und Ziehharmonika aufzuheitern, besonders eindrucksvoll. Die Reise jedenfalls endet für die Verschleppten glücklich. Dass sich Beckmann in der TV-Dokumentation zu den Geschehnissen äußert, ist ihr ein Anliegen – um zu erinnern, damit sich das Furchtbare der Nazizeit nicht mehr wiederholt: „Auch meine Eltern gehörten ja zur ’schweigenden Generation‘, wir Kinder haben uns kaum mit ihnen über diese schwere Zeit unterhalten können.“
Der breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt
Dass sich jetzt, da sich bald das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 70. Mal jährt, das Fernsehen dieser Geschichte annimmt, liegt für Stefan Brauburger auf der Hand: „Die Ereignisse von damals sind einer breiteren Öffentlichkeit kaum bekannt, und sie stehen beispielhaft für die Wirren kurz vor Kriegsende.“ Aber nicht nur das, sondern auch die Inszenierung mit aufwendigen Spielszenen in Verbindung mit einer subjektiven Erzählperspektive machen das Dokudrama aus der Sicht des Leiters der Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF zu einer Besonderheit: „Wir erzählen die Geschichte aus der Sicht von Fey von Hassell Pirzio-Biroli, Tochter des Diplomaten und Widerstandskämpfers Ulrich von Hassell.“
Dass sich die Orientierung an Biografien und individuellen Erlebnissen verstärken wird, wenn es um Geschichtsvermittlung im Fernsehen geht, davon ist jedenfalls der Produzent des Dokudramas, Reinhardt Beetz, überzeugt: „Das ist ein Element, mit dem sich historische Ereignisse sehr gut vermitteln lassen.“ Bei „Wir, Geiseln der SS“ bestand die große Herausforderung für ihn vor allem darin, so erzählt Beetz, Zeitzeugen und Experten zu finden und den Cast eng auf die authentischen, historischen Personen abzustimmen.
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