Doku über Colonia Dignidad: Wem gehört Geschichte?
„Colonia Dignidad – Aus dem Innern einer deutschen Sekte“ zeigt bisher unveröffentlichtes Material. Doch wer hat die Rechte daran?
„Kolonie der Würde“, so lautet die deutsche Übersetzung des Namens der deutschen Sekte in Chile. Doch die „Colonia Dignidad“ ist für genau das Gegenteil bekannt. Nämlich für Menschenrechtsverletzungen: für Vergewaltigungen, Folter und Verschwindenlassen. In der vierteiligen Doku, einer Koproduktion von WDR, SWR, Arte, LOOKSfilm und dem chilenischen Canal13, erzählen nun ehemalige Mitglieder der Sekte um Paul Schäfer von ihren traumatisierenden Erfahrungen.
Sie sprechen über Zwangsarbeit und den Alltag von Frauen, über Waffenhandel und die ausgebliebene Aufarbeitung seitens der deutschen Justiz. Es kommen auch Folterüberlebende, chilenische Missbrauchsopfer und Zeitzeugen zu Wort. Im Mittelpunkt stehen allerdings frühere und heutige Bewohner*innen der Villa Baviera, wie sich die deutsche Siedlung 400 km südlich der Hauptstadt Santiago de Chile seit 1988 offiziell nennt.
Die Doku geht dabei chronologisch vor und erzählt von der Vorgeschichte in Deutschland in den 50er Jahren über den Aufbau und das Innenleben der deutschen Kolonie in Chile ab 1961, die Kooperation mit der chilenischen Diktatur ab 1973 bis hin zum Fall der Colonia Dignidad in den 1990er Jahren.
Die Filmemachenden wollen die Betroffenen „als Menschen mit Namen, Gefühlen und Träumen“ zeigen. Die Geschichte aus ihrer Perspektive, aus dem Inneren der Colonia Dignidad erzählen, sagt Regisseurin Annette Baumeister. „Wir führen das Material zusammen und präsentieren der Gemeinde von Leuten, die dort ihr Leben verbracht haben, ihr audiovisuelles Gedächtnis“, erklärt Produzent Gunnar Dedio.
Was erzählt und was ausgespart wird
Die Fokussierung auf die früheren und heutigen Bewohner stößt jedoch an ihre Grenzen, wenn deren Leidensgeschichte erzählt, ihr Zutun an Misshandlung anderer aber ausgespart bleibt.
Zum Beispiel erfahren wir im Fall Günter Schaffriks einiges über ihn und seine zweifellos sehr schwere Kindheit. Über seine entscheidende Rolle bei der Rekrutierung chilenischer Kinder für Paul Schäfers systematischen sexuellen Missbrauch – wofür er als einer der Hauptverantwortlichen im Jahr 2013 rechtskräftig zu elf Jahren Haft verurteilt wurde – ist nur wenige Sekunden lang als Halbsatz in einer Bauchbinde zu lesen. Unvermittelt, ohne einen Kontext herzustellen. Zum einen wird das den anderen Opfern nicht gerecht. Zum anderen wird die Verantwortung für Verbrechen so allein bei Schäfer verortet.
„Colonia Dignidad – Aus dem Innern einer deutschen Sekte“, ab Di., 10.3., 20.15 Uhr, Arte und Mo., 16.3. und 23.3., ab 22:45, ARD
Die Filmemachenden konnten erstmals bisher unveröffentlichte Aufnahmen benutzen: 400 Stunden Video-, 90 Stunden Audio und 9.000 Fotos, die einige ausgewählte Sektenangehörige über die Jahre in der Sekte aufgenommen hatten. Dedio von der privaten Produktionsfirma LOOKSfilm erklärt, die Angehörigen hätten die Dokumente dem chilenischen Filmproduzenten Cristián Leighton übergeben, der sie wiederum LOOKSfilm anbot.
„Das Material gehört allen Bewohnern der Kolonie, nicht nur denen, die es verwaltet haben“, erklärt Winfried Hempel, der in der Colonia Dignidad aufgewachsen ist und inzwischen als Anwalt arbeitet. Das Material müsse den Ermittlungsbehörden zur Verfügung gestellt werden, denn es gebe noch offene Verfahren. Außerdem hätte von Anfang an ein Verfahren zur Übergabe an eine öffentliche Einrichtung festgelegt werden müssen. Wissenschaftler*innen und Journalist*innen haben auch Interesse an dem Material bekundet.
Laut Dedio sollen die Aufnahmen bald an ein Archiv übergeben werden. Allerdings hätten sie das Material zunächst erst mal für eine hohe sechsstellige Summe „restaurieren, katalogisieren, transkribieren und übersetzen“ müssen, um es nutzen zu können. Nun scheint die Übergabe nicht ganz einfach. So liegt es auch in der Verantwortung der kooperierenden öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, dafür zu sorgen, dass die Dokumente öffentlich zugänglich gemacht werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Sensationsfund Säbelzahntiger-Baby
Tiefkühlkatze aufgetaut