Doku-Filmer über Grenzzaun in Melilla: „Abou filmte, was ihm wichtig war“
„Les Sauteurs “ zeigt Menschen in Marokko, die den europäischen Grenzzaun überwinden wollen. Einer von ihnen hat das Material selbst gedreht.
taz: Herr Siebert, was war der Anlass für Ihren sehr ungewöhnlichen Dokumentarfilm über Menschen, die in Marokko versuchen, den europäischen Grenzzaun zu überwinden?
Moritz Siebert: Mein Koregisseur Estephan Wagner und ich, wir hatten uns beide schon lange mit der zunehmenden Abschottung durch das europäische Grenzregime beschäftigt. Die Situation an der spanischen Enklave Melilla, wo große Gruppen von Flüchtenden sich seit einiger Zeit organisieren und systematisch versuchen, den dortigen Grenzzaun zu überwinden, interessierte uns beide sehr. Am Anfang stand zunächst ein riesengroßer Respekt vor dem Mut, aber auch dem Durchhaltevermögen dieser Menschen und ihrem Willen, sich das zu nehmen, was sie als ihr Recht empfinden, nämlich auf die andere Seite des Zauns zu gelangen – egal wie viele Millionen in diesen Zaun gesteckt werden, um ihn höher, gefährlicher und vermeintlich unüberwindbarer zu machen.
Die Bilder des Films stammen von Ihrem Protagonisten, Abou Bakar Sidibé, der den Zaun zu überwinden versuchte. So war der Film zu Beginn weder in seiner Struktur noch in seinem Inhalt oder Ausgang festgelegt. Warum sind Sie das Risiko eingegangen, die Kontrolle über das Bild abzugeben?
Wir wollten die Bewunderung und den Respekt auch in einer filmischen Form ausdrücken. So kamen wir auf die Idee, nicht einen Film über diese Menschen zu machen, indem wir klassisch zu ihnen fahren und sie filmen, sondern die Leute ihre Erfahrungen selbst filmen zu lassen, ihnen ihre Perspektive zu lassen. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass wir uns Abou Bakar Sidibé auch als Koregisseur dazuholen würden. Am Anfang stand ein Projekt, das einen kollaborativen Charakter haben sollte, aber wir wussten nicht, wie weit diese Zusammenarbeit gehen würde. Wir wussten nicht, ob es ein Film über eine oder viele Personen oder über einen Ort, nämlich den Berg Gurugú, auf dem die Menschen leben und warten, werden würde. Das Risiko, das wir eingegangen sind, beziehungsweise die Offenheit, die wir haben mussten, empfanden wir als sehr spannend. Wir hatten keine festen Vorstellungen, wie der Film am Ende sein würde und daher auch keine Enttäuschungen.
Wie ging es dann für Sie weiter?
Wir fragten uns, wie wir für das Projekt Leute finden könnten, und kauften eine Fotokamera mit Videofunktion für 60 Euro. Dann wurde uns von einem Journalisten, der die Communities auf dem Berg gut kennt, Abou vorgeschlagen. Abou bekam eine Kamera, und erst fünf Tage später habe ich ihn selbst getroffen. Mit der Kamera hatten wir Abou eine Liste mit Szenen gegeben, die wir aus der Recherche heraus zu filmen interessant gefunden hätten. Das Spannende war, dass wir ganz früh an dem ersten Bildmaterial von Abou gemerkt haben, dass er diese Liste ignoriert hat. Er hat sie gelesen, weggeschmissen und angefangen, seine eigenen Sachen zu filmen.
Wie kann man sich das vorstellen – als eine Art Skript, für das, was gefilmt werden soll?
Es war eine Liste mit Vorschlägen möglicher Szenen. In unserer Recherche war uns aufgefallen, dass die Gesellschaft, die in dem Camp auf dem Berg Gurugúentstanden ist, eine sehr ausgefeilte Struktur entwickelt hat. Auf ökonomischer Ebene gab es zum Beispiel bestimmte Formen des Handels, es gibt eine Form von Regierung mit ausdifferenzierten Tätigkeitsfeldern und Streitschlichtungsmechanismen. Das fanden wir interessant, also haben wir Abou Szenen vorgeschlagen, die das zeigen. Andere Szenen waren darauf ausgelegt, dass Abou ein Verständnis vom Filmen entwickelt.
geb. 1973 in Stuttgart, lernte Estephan Wagner aus Chile an der britischen National Film and Television School kennen, wo beide Dokumentarfilm studierten. Ihren Film „Les Sauteurs – Those Who Jump“ drehten sie gemeinsam mit Abou Bakar Sidibé, der in Mali Englisch studierte, seit April 2015 in Deutschland ist und auf seinen Asylbescheid wartet.
Was sollte er verstehen?
Wie dreht man eine Szene, die einen Prozess darstellt, wie das Zubereiten eines Essens? Es ging darum, Abou einfache Strukturen des Filmemachens zu erklären und bei bestimmten Momenten ein Vorher und Nachher mitzufilmen. Es war gut, Abou diese Prozesshaftigkeit der Auflösung einer Szene mitzugeben, aber er hat viele unserer Vorstellungen ignoriert. Abou hat das gefilmt, was er als wichtig empfand, und das war ein Glücksfall. Er hatte große Freude daran, sich am Filmen auszuprobieren, und hat sehr viel Material gedreht. Alle vier Wochen haben Estephan oder ich Abou auf dem Gurugúbesucht und haben über das Filmen gesprochen, aber es war auch ein fortlaufender Prozess, sich kennenzulernen und Vertrauen zwischen uns aufzubauen. Langsam wurde klar, dass Abou vom Filmenden zum Protagonisten unseres Films werden würde. Als wir uns später an den Schnitt machten, merkten wir, dass Abou auch als Koregisseur genannt werden musste.
Es gibt im Film eine Szene, in der an einem Mann beinahe Selbstjustiz geübt wird und eine andere Szene, in der wir Zeuge der rituellen Schlachtung eines Huhns werden. Wie viel Material gab es insgesamt und wer hat entschieden, welche Szenen im Film landen?
Es gab 40 Stunden Material, und wir hatten nicht die Möglichkeit, bei jeder Szene zusammen mit Abou zu entscheiden, ob eine Szene im Film landet oder nicht. Die Opferung des Huhns, die an die Hoffnung gekoppelt ist, über die Grenze zu kommen, war natürlich keine Idee von uns. Wir hätten die Szene auch nie benutzt, wenn es danach nicht einen Moment gäbe, in dem sich die Männer über ihre Geistlichen, die Marabouts, lustig machen. Das war uns wichtig: das latente Klischee einer Tieropferung wird gleichzeitig von den Protagonisten wieder aufgelöst, indem sie sich in einer anderen Szene davon distanzieren. Es ging uns darum, die Leute auf dem Berg als komplexe Charaktere zu zeigen. So wie wir selbst ja auch komplex und teilweise widersprüchlich in unserem Handeln oder Denken sind.
„Les Sauteurs – Those Who Jump“. Regie: Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou Bakar Sidibé. Dänemark 2016, 83 Min.
Neben den Aufnahmen von Abou haben Sie Bilder von Überwachungskameras am Grenzzaun in den Film geschnitten. Wie kamen Sie an dieses Material?
Die Aufnahmen wurden uns von der Guardia civil, der spanischen Militärpolizei, die auch für die Grenzüberwachung zuständig ist, auf einer Festplatte zur Verfügung gestellt. Nachdem wir Abous Material gesichtet hatten, merkten wir, dass es im Film eine Leerstelle geben würde, nämlich dass der Zaun fehlt. Es war unsere klare Ansage gewesen, dass Abou den Zaun nicht filmen sollte, weil ihn das zu sehr in Gefahr bringen würde. Die Überwachungsbilder stehen in krassem Gegensatz zu den Bildern von Abou, denn das Schwarz-Weiß-Bild der Überwachungskamera möchte keine Geschichte mehr erzählen und keinen ästhetischen Ansprüchen genügen. Das Bild folgt einer ganz simplen Logik von richtig oder falsch, schwarz oder weiß, gut oder schlecht. Ein leeres Bild – ohne Menschen auf der Flucht – ist ein gutes Bild. Sehen wir aber sich bewegende Punkte auf dem Bild, gibt es ein Problem, dessen man sich annehmen muss. Uns ging es um eine visuelle Darstellung der Gewalt, die der Architektur des Zauns inhärent ist und so keiner weiteren Bilder bedurfte. Im Gegensatz dazu sind Abous Bilder voll von Hoffnung, Begehren und Zukunftsplänen.
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