Diskutiertes Buch aus Italien übersetzt: Unerträgliche Erforschung des Bösen

In „Die Stadt der Lebenden“ rekonstruiert Nicola Lagioia den grausamen Mord an dem 23-jährigen Luca Varani. Rom wird darin zur dunklen Protagonistin.

Porträt des Autors Nicola Lagioia mit Lederjacke und dicker Brille

Der Autor von „Die Stadt der Lebenden“: Nicola Lagioia Foto: Ianniello & Pasqualini

Die Grenze zwischen Literatur und Journalismus ist in Italien sehr durchlässig. Es gibt unzählige Journalisten, die sich gerne als Literaten geben, und Literaten, die die Arbeit der Journalisten übernehmen. Nicht immer kommt dabei etwas Gutes heraus, aber zum Glück gibt es nennenswerte Ausnahmen. Nicola Lagioias „Die Stadt der Lebenden“ ist dafür ein Beispiel.

Lagioia, das muss vorneweg gesagt werden, ist eine der interessantesten Stimmen der italienischen Gegenwartsliteratur. Im Jahr 2015 hat er für seinen Roman „Eiskalter Süden“ den Premio Strega bekommen, was in Italien eine Art Oscar der Literatur ist: Große Erwartungen, noch größeres Gerede, alle beschweren sich darüber, aber am Ende bleibt er immer der Premio Strega. Geschätzt wurde er auch als Direktor der wichtigen Turiner Buchmesse, die er für sieben Editionen geleitet hat, bevor er im Mai aus eigener Entscheidung ausschied.

Im Jahr 2016 bekam Lagioia von dem Magazin der Zeitung La Repubblica ein Angebot: Er sollte über den kurz zuvor begangenen Mord an dem 23-jährigen Luca Varani durch zwei Dreißigjährige, der in Italien eine unglaubliche mediale Debatte ausgelöst hatte, eine Reportage schreiben. Lagioia sagte zunächst ab und legte halb genervt auf, nie zuvor hatte er sich als Schriftsteller mit solchen Fällen beschäftigt, warum denn jetzt. Dann änderte er seine Meinung. Und die Geschichte ließ ihn nicht mehr los.

Aus dieser Reportage ist 2020 die „Stadt der Lebenden“ entstanden, die nun endlich auch in den deutschen Buchhandlungen zu finden ist. Anhand von polizeilichen Dokumenten, Prozessakten, Interviews mit den Protagonisten und Gesprächen mit Journalisten, die im Text erwähnt und zum Teil integriert werden, rekonstruiert Lagioia den grausamen Mordfall und behält dabei die wahren Namen und Ereignisse bei.

Er mischt Gattungen und literarische Techniken: journalistische Reportage, Roman, anthropologische und soziologische Analyse, Autofiktion. Auch Ich-Erzähler und eine externe Erzählerstimme wechseln sich ab. Die Gefahr, ein geschmackloses und voyeuristisches Buch über einen medialen Fall zu schreiben, war durchaus groß. Doch Lagioia gelingt große Literatur.

„Die wollten sich amüsieren“

Der 23-jährige Luca Varani wird 2016 in einer Wohnung in Rom tot aufgefunden. Er liegt nackt da, hat viele tiefe sowie oberflächliche Wunden, in seiner Brust steckt ein Messer, um den Hals ein Stromkabel. Wer auf ihn losgegangen ist, der hat es mit einer Brutalität, mit einer, wie Lagioia schreibt, „primitiven Wut“ getan, die selbst die Carabinieri nicht unberührt lässt. Varanis Vater, der in dem Buch zitiert wird, wird sagen, dass die „Schandkerle“ nicht nur vorhatten, einen Menschen zu töten, sondern „die wollten sich amüsieren“.

Die Schandkerle heißen – im Buch sowie in der Realität – Manuel Foffo und Marco Prato, zwei Sprösslinge des römischen Bürgertums, um noch alte aber gültige Kategorien zu verwenden. Der eine „ein verdruckster Langzeitstudent, Sohn eines rüden Restaurantbetreibers“, der andere „der exaltierte Sohn eines Kulturmanagers“. Mit dem Opfer, Adoptivkind einer Familie von fahrenden Händlern, haben sie wenig gemeinsam: Unterschiedliche soziale Schichten, unterschiedliche Erfahrungen und Ambitionen.

In einer anderen Metropole würden die drei Männer vielleicht nie miteinander in Berührung kommen, aber im chaotischen Rom sind alle Trennungen aufgehoben.

Sie töten nicht nur, weil sie unter Drogen standen

Foffo und Prato treffen also auf Luca Varani und töten ihn nach drei Tagen Delirium, Sex und Kokain. Sie töten nicht, oder zumindest nicht nur, weil sie unter Drogen standen, diese Erklärung wäre für Lagioia zu einfach. Und sie töten auch nicht aus sexuellen Gründen, obwohl die Unterdrückung des eigenen Queerseins in einem Land, indem die LGBTQI-Community mit strukturellen Nachteilen zu kämpfen hat, in dem Buch eine Rolle spielt. Foffo und Prato töten, um zu sehen, wie es ist, einen Menschen zu töten. Weil sie Lust darauf haben. Weil sie sich stärker fühlen durch die Erniedrigung des Schwächeren.

Lagioias Buch ist weder ein Krimi noch die bloße Rekonstruktion eines Mordfalls, obwohl es sich fesselnd wie ein Thriller liest. Der Roman ist – und das macht ihn so lesenswert – eine überwältigende, mächtige, manchmal sogar unerträgliche Erforschung des menschlichen Bösen. Foffo und Prato sprechen, als hätten nicht sie gehandelt, sondern jemand anders.

Sie tun so, als hätte „ein unheilvoller Regisseur“ die Führung der Tat übernommen. Waren sie Monster? Der Autor glaubt nicht daran. Damit will er keineswegs die Schuld der zwei Männer kleinreden und behaupten, in jedem von uns stecke ein potenzieller Killer. Doch „Monster“ wäre fast eine Erleichterung. Nichts ist monströs in dieser Geschichte, alles ist furchtbar menschlich.

Eine Reise in den menschichen Abgrund

So erscheint die Beschreibung der letzten Stunden vor dem Mord wie eine Reise in den menschlichen Abgrund. Lagioia begleitet die Täter bis zur Überschreitung der denkbaren Grenzen, er taucht in ihren Irrsinn ein und nimmt den Leser und die Leserin gleicht mit. Am liebsten würde man von der Couch aus laut schreien und die Mörder auffordern, das Opfer und sich selbst zu retten und die Spirale des Wahnsinns zu stoppen. Doch diese dreht sich schneller und schneller. Und am Ende bleibt einem nichts anderes übrig, als den tragischen, erwarteten Schlussakt zu sehen.

Die „Stadt der Lebenden“ ist häufig mit Truman Capotes „Kaltblütig“ verglichen worden. Der US-amerikanische Schriftsteller gilt als Grenzgänger zwischen Literatur und Journalismus. Auch mit James Ellroy und Emmanuel Carrère wurde er assoziiert. Die Erforschung der Realität durch die Literatur hat aber auch in Italien Tradition, man denke an Primo Levi, der den Holocaust erzählt hat, oder an Carlo Levi mit seinen Beobachtungen des Süditaliens in den Dreißigerjahren.

Oder an Alessandro Leogrande, 2017 vorzeitig gestorben, der für Lagioia ein Freund und Vorbild gewesen ist. Leogrande, bedauerlicherweise nicht ins Deutsche übersetzt, war ein aufmerksamer Beobachter aller gegenwärtigen Phänomene, die er stets in ihrer sozialen Dimension erzählte. Die gleiche soziale Dimension findet sich auch bei Lagioia, zum Beispiel wenn er über die Stadt Rom schreibt.

Ratten, Möwen und Wildschweine statt Romantik

Zu den beeindruckendsten Seiten des Buches gehören nämlich diejenigen, auf denen es um die Hauptstadt geht. Rom ist in Lagioias Buch nicht eine malerische, stille Kulisse, sondern sie wird fast zur Protagonistin des Blutbads.

Nicola Lagioia, „Die Stadt der Lebenden“. Roman. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. btb Verlag, Penguin Random House Verlagsgruppe, München 2023. 512 Seiten, 25 Euro

In diesem Rom gibt es kein Kolosseum zu bewundern, sondern nur antike Ruinen, die in all ihrer Derbheit erscheinen, „zwischen dem Papiermüll, den Obdachlosen, dem fauligen Wasser der Brunnen“. In dieser Stadt gibt es keine romantischen Spaziergänge bei Nacht, sondern Ratten, Möwen und Wildschweine, die die Straßen bevölkern. Rom ist nicht ewig, sondern ist ganz im Gegenteil der Inbegriff der Sterblichkeit.

Die Stadt ist zerfallen, korrupt, pietätlos und doch kraftvoll. Wie in der Szene, in der Lagioia die zwei Mörder als Vampire beschreibt, die ihre Tat noch vor Sonnenaufgang begehen müssen. Dann jedoch steigt die Sonne über Rom auf, die ewige, die sterbliche Stadt, und sie lebt einfach weiter. Während ein Unschuldiger ohne ersichtliches Motiv getötet wird.

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