Diskussion zur Hetzjagd in Chemnitz: Auf unsicherem Grund
Ob in Chemnitz Menschen gejagt wurden oder gar gehetzt, ist einerlei: Wie jeder Mob verbreitete auch dieser Angst und Schrecken.
Diese Debatte führt in die Irre: Die Frage, ob in einem formaljuristischen Sinne in Chemnitz nach der Tötung eines Bürgers, vermeintlich durch zwei Flüchtlinge, und der anschließenden hitlergrußgarnierten Demonstration gegen Menschen, die irgendwie „ausländisch“ aussehen, eine Hetzjagd auf diese stattfand oder bei dieser Gelegenheit es lediglich zu „Jagdszenen“ kam, mag für juristische und redaktionelle Feinsterörterungen von Belang sein, etwa durch Torsten Kleditzsch, Chefredakteur der Freien Presse aus Chemnitz.
Für Flüchtlinge, für Linke, für, so sagen es Rechtsradikale, „Zecken“ gab es besonders in jenen Tagen kein Entrinnen vor dem, was gemeinhin Mob genannt wird: eine gewaltandrohende Gruppe. Die ARD-Dokumentation „Chemnitz – Stadt in Aufruhr“ ist, von der 18. Minute an, ein klassisches Beispiel für Verängstigung, Einschüchterung und die Erzeugung von blanker Angst.
Semantische Erwägungen spielen jedoch gar keine Rolle. Sie mögen allenfalls von Belang sein, wenn ein Mann wie Hans-Georg Maaßen, Präsident des Verfassungsschutzes, sie dazu nutzt, die Androhungen von Gewalt zu bagatellisieren. Die 65.000 Menschen, die kurz nach der Eroberung der Innenstadt Chemnitz' dorthin für ein Solidaritätskonzert mit Feine Sahne Fischfilet, Campino, Trettmann und Kraftklub zusammenkamen, waren auch ein mächtiger Sicherheitsgürtel, der dafür sorgte, sich rechter Aggressionen erwehren zu können.
Das Problem ist nur: Erstens ist einschüchternde Gewalt nichts, was Rechtsradikalen allein attestiert werden muss, auch Linke sind in spezifischen Situationen fähig und in der Lage, Gewalt auszuüben, vorzugsweise aus einer Position der Mehrheit gegen Minderheiten. Wenn Tobias Burdukat, Panter Preis Träger und Sozialarbeiter in Grimma, Sachsen, erzählt, dass Linke wie er gerade in den sächsischen Dörfern unermüdlich aufpassen müssten, um von der rechten Populärkultur buchstäblich nicht erschlagen zu werden, dann ist das, nach allem, was man aus diesen Provinzen hört, nichts als wahr.
Andererseits war das Gefühl Hunderter von Frauen in der Silvesternacht 2015/2016 am Kölner Hauptbahnhof, der männlichen Gewalt, in diesem Fall überwiegend der von männlichen Flüchtlingen, ausgeliefert zu sein, erstens auch kleingeredet worden („Nützt sonst nur den Rassisten!“). Zweitens aber war gerade das Kleinreden ein weiterer Akt von Desolidarisierung, weil jene Frauen (und Männer), die sich einer Übermacht an Gewalt(androhung) ausgesetzt sahen, auch noch politisch verhöhnt wurden – oder getröstet mit dem Hinweis, das, was vorgefallen sei, hätte auch auf dem Oktoberfest unter einheimischen Bayern passieren können.
Unsicherheit und Desintegration
Interessant war auch eine Veranstaltung zu den Folgen des Deutschen Herbstes 1977 im Berliner Mehringhof, einem linken Gebäudeensemble in Kreuzberg: Der Autor dieser Zeilen, Moderator des Panels, war dem überwiegend unauffällig-rentnerhaft aussehenden Publikum ausgesetzt – und ahnte nicht, dass es sich um die alt gewordenen Freund*innen des linken Terrorismus handelte. Als gefragt wurde, ob die Idee der Gewalt nicht Angst und Schrecken verbreite, antworteten einige, ein Knieschuss habe noch niemanden umgebracht. Das Ende war, dass mir Gewalt angedroht wurde, „wir finden dich überall“.
Der Psychoanalytiker Paul Parin hat vor vielen Jahren in einem Aufsatz über Jüdisches und Schwules und was beide Gruppen eint, geschrieben: das Gefühl, die Welt nicht auf sicherem Terrain zu begehen, nirgendwo. Immer lauert Unsicherheit, Desintegration – mit der Folge fundamentaler Furcht. Wer mit diesem Befund immer noch findet, es sei ja nicht schlimm, als Jude etwa durch Berlin zu gehen, er müsse eben nur die Kippa abnehmen, hat den Kern von Weltmisstrauen nicht im politischen Empfinden.
Wenn deutsche People of Colour darüber berichten, dass sie als nichtweiße Bürger*innen immer Angst haben, bedroht, eingeschüchtert und womöglich körperlich attackiert zu werden, muss das grundsätzlich verstanden werden: Als Angriff auf die Integrität aller. Gewalt, sagt Jan Philipp Reemtsma, zerstört, wenn sie überall lauert, jedes zivilisierte Zusammenleben. Und zwar nicht strukturelle Gewalt, sondern konkrete Gewalt, Schläge, mächtig und mit vielen inszenierten Körperdrohungen, Schreien und Gesten, wie in der ARD-Dokumentation über die enthemmenten Nazis und ihre Freund*innen auf der vermeintlichen Solidaritätsdemo für einen Getöteten aus Chemnitz.
Schwächere verlassen sich darauf – Frauen, Migrant*innen, People of Colour, schwule Männer –, dass die Polizei auch sie schützt, vor wem auch immer: Das Aberkennen der Charakterisierung einer „Hetzjagd“ als irgendwie zwar Stattgefundenes, aber nichts weiter von besonderem Belang, ist das eigentlich an diesem Spitzenbeamten Deprimierende. Da hat einer nicht begiffen, was demokratischer Schutz durch die Polizei zu bedeuten hat – den Mob nötigenfalls brutal an der Durchsetzung seiner Lebensform zu hindern.
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