Digitalisierung und Mündigkeit: Die KI ist nicht am Zug
Vor digitalen Neuerungen können wir uns nicht drücken, wenn wir kommende Engpässe überwinden wollen. Das Zauberwort dafür heißt Bildung – wie so oft.
I n Frankreich steht vor unbeschränkten Bahnübergängen ein Schild: „Attention. Un train en peut cacher un autre.“ Sinngemäß: der Zug, auf den sie achten, könnte den hinter ihm heranrasenden verdecken. Passen Sie auf, was sich hinter dem Vordergrund abspielt. Auch bei der Diskussion über sogenannte künstliche Intelligenz ist dieser Rat angebracht.
Seit in diesem Frühjahr Millionen von Menschen mit Chat-GPT oder GPT 4, mal mehr, mal weniger ernsthaft gespielt und damit die Leistung des Systems verbessert haben, wird allenthalben über KI diskutiert. Auf der einen Seite verheißen die Entwickler eine Gesellschaft mit rationaler Bürokratie, smarten Städten und märchenhaftem Wachstum. Gleichzeitig warnen führende Betreiber von „künstlicher Intelligenz“ vor deren Gefahren: Unkontrolliert könne sie unzählige Menschen überflüssig machen und die Welt mit Fake News überschwemmen. Ultimative Steigerung: KI könnte die menschliche Zivilisation auslöschen. Die Entwickler forderten ein Moratorium – an das sie sich natürlich nicht hielten.
Diese überdrehte Vernichtungsdrohung durch eine fehlfunktionierende oder gar bösartige Maschine durchzieht, trotz aller technischen Aufklärungen, nach wie vor die Feuilletons. Selbst seriöse Forscher hüllen sich oft in Skepsis, wenn sie gefragt werden, ob die Maschinen Selbstbewusstsein entwickeln können.
Hinter den Märchen von mörderischer Software oder den Warnungen vor unüberprüfbaren KI-Entscheidungen gerät eine diffuse, aber machtvolle Entwicklung in den Hintergrund. Nicht eine aus dem Ruder laufende, sondern ein ganz normal funktionierende Digitalisierung könnte das kommende große Problem sein: die Vision einer Menschheit, in der die kooperativen und kreativen Aspekte von Arbeit in Algorithmen ausgelagert werden.
Eine Menschheit, die mit manipulativem Marketing oder mit Anweisungen aus dem Zentralkomitee auf Trab gehalten und mit kultureller Billigware stillgestellt wird; in der Trolle und Fake News die Demokratie zersetzen und Menschen mit märchenhaftem Reichtum die Lieferketten und die Sinnfabriken kontrollieren; die Vision von automatisierten Grenzkontrollen und Technokriegen – diese Gefahren sind jedenfalls weit realistischer als eine diabolische Killer-KI.
Auch wenn – oder gerade weil – sich das Fenster für eine Zähmung der von Oligarchien getriebenen Umwälzungen gerade rasant schließt: Wir können uns vor einer folgenreichen Diskussion nicht mehr drücken. Zum Beispiel darüber, wie wir Leben und Zusammenleben organisieren. Wollen wir die Alten von Robotern pflegen lassen, wollen wir lebendige Lehrer durch Lernautomaten ersetzen, die Vielfalt des Marktes durch ein paar planwirtschaftlich organisierte Oligopole planieren lassen? Wollen wir die Erziehung zur demokratischen Mündigkeit durch digitale Kontrollen à la Volksrepublik China oder durch die Lernsoftware welcher Multis auch immer ersetzen lassen?
Wir werden Technik brauchen
Auch wenn die Verheißung, dass das Internet Menschheitswissen fast kostenlos allen zugänglich machen werde, Computer eine rationelle Ökonomie und eine gerechte Verteilung möglich machen, arg lädiert ist – wir können auf beides nicht verzichten. Aus der Sackgasse der kapitalistischen Evolution kommen wir nur mit Algorithmen und menschlicher Intelligenz heraus. Wir werden Technik, auch die zur Überwachung und Planung, und automatisierte Prozesse brauchen, um die Engpässe der kommenden Jahrzehnte zu überwinden, um die Temperaturen und den Schwund von Fauna und Flora zu bremsen.
Und das heißt auch: Je komplexer und allumfassender die kapitalgetriebene Technik wird, desto klüger, urteilsfähiger und politisch aktiver müssten die Menschen werden, wenn wir uns noch als Individuen wiedererkennen wollen und nicht als Anhängsel von Apps und Algorithmen. Und umso aufgeklärter müssen Politiker sein, vor allem aber: durchsetzungsstark gegen die techno-kapitalistischen Oligarchen.
Das Zauberwort heißt Bildung. Auch die vorige große Epochenwende, hin zur bürgerlichen Gesellschaft und zum industriellen Kapitalismus, ging einher mit einer Bildungsrevolution. Angesichts einer erneuten Steigerung der manuellen und intellektuellen Fähigkeiten des Menschen durch ihre Automatisierung geht es darum, die technische, digitale, historische, literarische und anthropologische – kurz und knapp: die umfassende polytechnische und humanistische – Bildung zu steigern, und dazu die Motivation, die eigenen Leben nicht aus der Hand zu geben, sondern aktiv zu gestalten.
Wo bleibt der Bildungsprotest?
Die Forderung von „Bildung“ und nicht nur von Wissen für alle ist so alt wie die Neuzeit, aber heute geht es dabei, in den Politsprüchen und bei den Kapitalliberalen, eigentlich nur um Fachkräfteeinwanderung oder um „Startchancen“ – also um Rekrutierungshilfen für die Exportwirtschaft und zwei Lehrer für die schlechtesten 10 Prozent der allgemeinbildenden Schulen. Ein wirklicher Bildungswumms aber dürfte unter 100 Milliarden Euro nicht zu haben sein.
Das wäre ein schöner Anfang, aber mehr auch nicht. Um die Bildungsausgaben um 30 Prozent zu steigern, bräuchte es 50 Milliarden Euro – jedes Jahr. Das ist nicht viel, es entspräche einer rund einprozentigen Steuer auf die Nettovermögen der Deutschen: eine Bildungssteuer, damit das Land vermögend bleibt – und Kinder die Chance haben, zu Bürgern zu werden, auch im Zeitalter der künstlichen Intelligenz.
Warum das nicht möglich ist, obwohl es doch alle wissen und es durchargumentiert ist bis zum Abwinken? „Solange nicht jede Woche 10.000 Eltern und Lehrer in jedem Bundesland vor den Schulministerien demonstrieren, wird nichts geschehen, aber ich glaube, das würde etwas ändern.“ Das sagte kürzlich Michel Friedman auf der lit.cologne. Er fügte hinzu: Solange sie das nicht machen, werfen sie bitte nicht mit Dreck auf die da oben.
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