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Digitale Erinnerung im UkrainekriegGegen die Unsichtbarmachung

Das Theater in Mariupol war ein Mikrokosmos des Widerstands. Eine Recherchegruppe arbeitet seine Zerstörung durch russische Angriffe auf.

Digitale Rekonstruktion von dem was, was es nicht mehr gibt: das kriegszerstörte Theater Mariupol Foto: Camille Blake, Berliner Festspiele 2023

Um die 1.000 Zi­vi­lis­t*in­nen hielten sich im Mariupoler Theater auf, als am 16. März eine russische Bombe im Bühnenraum des Gebäudes einschlug und bis zu 600 Menschen tötete. Nachdem Russland die Stadt kurze Zeit später besetzt hatte, verschwand die Theaterruine hinter weißen Sichtschutzzäunen. Dahinterliegende Überreste eines der größten Verbrechen an der ukrainischen Zivilbevölkerung seit Beginn des russischen Angriffskrieges trug man mit Bulldozern ab.

Gegen diese Unsichtbarmachung und für die Sichtbarkeit ukrainischen Widerstands setzt sich das ukrainische Centre for Spatial Technologies (CST) ein. Am Freitagabend stellte es seine Arbeit bei den Berliner Festspielen vor.

„Der Stuhl stand in diese Richtung – und dort, dort war ein Brett, um den Luftzug zu stoppen. Hier haben Kinder geschlafen, deshalb durfte dort kein Zug sein“, erklärt Victoria, eine Überlebende des Anschlags, in einem Filmausschnitt, den der Leiter des CST, Maksym Rokmaniko an diesem Abend zeigt. Im Film deutet Victoria auf ein dreidimensionales Computermodell des Theaterinnenraums, das das CST zusammen mit Forensis, dem Berliner Ableger des Londoner Rechercheagentur Forensic Architecture, erstellt haben.

Mithilfe tausender Fotos, Geolocations und historischer Baupläne haben sie das Mariupoler Theater über ein Jahr lang in einem Computermodell detailgetreu nachgebaut. Anhand von Zeugenaussagen, wie jener von Victoria, passten die Forschenden das digitale Abbild anschließend an und erweiterten es um Objekte und Möbel. Stück für Stück kann so nachvollzogen werden, was sich in dem Gebäude in dem Wochen vor und während des Angriffs abspielte: wo sich die Schutzsuchenden aufhielten, wie die Räume genutzt wurden, und vor allem, was im Moment der Explosion passierte. Mit den überlagerten Zeugenaussagen will man auch gegen russische Fehlinformationen angehen.

Ein Türöffner der Erinnerung

„Traumatische Erinnerungen sind oft schwer abzurufen, ein objektbasierter Prozess kann ein Türöffner in die Erinnerung sein“, beschreibt Eyal Weizman, der Gründer von Forensic Architecture, seinen Ansatz der sogenannten situierten Zeugenaussagen. Mit jener Methode hat die Recherchegruppe bereits zur Rekonstruktion potenzieller Menschenrechtsverstöße in syrischen Gefängnissen, dem abgebrannten Londoner Greenfell Tower und der NSU-Mordserie beigetragen.

Die Aussagen werden akribisch psychologisch und rechtlich vorbereitet, insbesondere um eine Retraumatisierung der Zeu­g*in­nen zu verhindern. Diese Methode machte sich auch das ukrainische CST zunutze. Aufgrund der traumatischen Erlebnisse war Rokmaniko zunächst überrascht von der großen Bereitschaft der Überlebenden, ihre Erlebnisse aus dem Theater zu teilen.

Doch war der Ort, wie sich herausstellte, viel mehr als der Schauplatz eines Kriegsverbrechens. In den Wochen zuvor hatte sich das Gebäude in einen Mikrokosmos zivilen Widerstands verwandelt – „in eine Stadt in einem Gebäude“.

Wie aus den Zeugenaussagen und Rekonstruktionen hervorgeht, wurde das Theater in kurzer Zeit zu einem Raum der Solidarität, der Kreativität und gemeinsamen Verantwortung. Menschen versammelten sich um die Feldküche und ums Klavier, Kinder spielten dort. Die Rekonstruktion bedeutete für die Überlebenden auch ein Stück Erinnerung zurückzubekommen, während sie die Beweise dafür unter der russischen Besatzung von ihren Handys löschen mussten.

Der Vortrag fand im Rahmen des Festivals „Performing Exiles“ statt, das sich auch mit Berlin als einem Ort des Exils auseinandersetzt. Während im letzten Jahrhundert noch Menschen emigrieren mussten, sei die Stadt heute selbst Ort der Exilierten geworden, so das Programm. Die ­Recherchen zu „Memory Theatre“ des Centre for Spatial Technologies und Forensis geben ein Beispiel, wie situierte Zeugenaussagen über ein Mittel der Beweisführung hinausgehen. Sie zeigen neue Wege für eine digitale Erinnerungskultur im Exil.

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