Diepgen und Wowereit übers Regieren: „Bier steht für Berlin“
Eberhard Diepgen (CDU) und Klaus Wowereit (SPD) regierten insgesamt 28 Jahre die Stadt. Beide sind grundverschieden. Was haben sie sich zu sagen?
taz: Herr Wowereit, Herr Diepgen, sind Sie sind eigentlich nach wie vor untereinander beim Sie?
Klaus Wowereit: Das war schon zu Amtszeiten so. Warum sollten wir das jetzt ändern?
Und wenn Sie zusammentreffen, worüber reden Sie dann?
Eberhard Diepgen: Worüber haben wir zuletzt gelästert?
Wowereit: Wir waren bei Springer. Worum ging es da? Abgesehen davon – am schönsten war es mal bei einem Geburtstag von Brigitta Mira. Sie hat in einer Kneipe gefeiert. Ich komm rein, noch als Regierender Bürgermeister, da sagt Brigitte Mira: „Ach wie schön, Herrn Diepgen, dass Sie auch da sind.“ (lacht)
Diepgen: Ich werde auf der Straße oft angesprochen und empfinde dabei eine hinreichende Mischung zwischen begrenzter Lästigkeit und befriedigter Eitelkeit. Je länger meine Amtszeit vergangen ist, desto besser erscheint sie...
Sie haben beide an der Freien Universität Jura studiert, sind klassische Berufspolitiker geworden und jeweils über ein Milliardendesaster gestolpert. Verbindet das?
Wowereit: Was ist denn ein klassischer Berufspolitiker?
Eberhard Diepgen
78, war von 1984 bis 1989 und von 1991 bis 2001 Regierender Bürgermeister. Ausgerechnet während des Mauerfalls jedoch saß seine CDU in der Opposition. Der im Wedding aufgewachsene Jurist stürzte 2001 über den Bankenskandal, den sein politischer Vertrauter Klaus-Rüdiger Landowsky im Wesentlichen zu verantworten hatte. Den Sprung in den Bundestag verweigerte ihm 2002 seine Partei. Diepgen zog sich daraufhin aus der Politik zurück und arbeitete als Rechtsanwalt.
Diepgen: Ich war Rechtsanwalt. Und ich habe immer darauf geachtet, dass ich ein berufliches Bein habe. Ich halte nichts von denjenigen, die ihr Studium nicht abschließen, dann in die Politik gehen, große Karriere machen wollen oder sogar machen, ohne wirkliche Erfahrungen im Umgang mit dem Leben zu haben.
Sie waren der Regierende Bürgermeister, der mit 15 Jahren am längsten im Amt war.
Diepgen: Richtig. Im Nachhinein ist mein Leben mehr von den politischen Ämtern geprägt gewesen. Aber das war so nicht unbedingt geplant.
Wowereit: Auch bei mir war es das nicht. Nach meinem Studium war ich in der Verwaltung, bin dann aber mit 30 Jahren Stadtrat in Tempelhof geworden. Wichtig ist die Unabhängigkeit – also nicht für ein Amt zu kandidieren, weil du sonst in die Sozialhilfe gehst.
Was haben Sie noch gemeinsam?
Wowereit: Erst mal trennt uns vieles, schon allein vom Naturell her. Andererseits haben wir natürlich auch dieselben Erfahrungen gemacht in diesem Amt.
Klaus Wowereit
67, war von 2001 bis 2014 Regierender Bürgermeister von Berlin. Geboren in Tempelhof studierte er wie Diepgen Jura an der Freien Universität Berlin. 1999 wurde er zum Fraktionschef der SPD im Abgeordnetenhaus gewählt. 2002 wagte er eine Koalition mit der damaligen PDS, die zwei Legislaturen hielt. 2014 kündigte er seinen Rücktritt an. Die Entscheidung kam überraschend, obwohl Wowereit wegen vieler Pannen am BER unter Druck stand. Sein von der SPD-basis bestimmter Nachfolger Michael Müller regiert bis heute.
Diepgen: Wir sind vom Typ und von der Herangehensweise sehr unterschiedlich. Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Aber viele Erfahrungen sind die gleichen, auch mit der eigenen Partei und der Öffentlichkeit.
Herr Diepgen, wie würden Sie Herrn Wowereit beschreiben?
Diepgen: Herr Wowereit war in der Kür sehr gut. Er hat ganz andere Menschen angesprochen als ich. Für die Attraktivität Berlins war seine Ausstrahlung wichtig. Bei der Pflicht sah ich entscheidende Lücken. Ich war dagegen in der Pflicht besser als in der Kür.
Wowereit: Bei der Pflicht stimme ich nicht zu. Das Bild des Regierenden Partymeisters war sehr verzerrt. Alle, die mit mir zusammengearbeitet haben, wussten, dass ich ähnlich wie Diepgen Aktenstudium betrieben habe.
Diepgen: Ich würde meinen Champagner immer nur aus dem Glas trinken...
... damit spielen Sie auf ein berühmt gewordenes Foto mit Klaus Wowereit an.
Eberhard Diepgen
Diepgen: Spätestens seit der 750-Jahr-Feier habe ich gelernt, mich nie mit einem Wein- oder Sektglas fotografieren zu lassen. Wenn, dann nur mit einem Bierglas.
Warum?
Diepgen: Bier steht für Berlin und Bodenhaftung, Sekt für Feiern und Schickimicki.
Wowereit: Mit dem Champagner sind Sie schon auf Fake News reingefallen. Ich habe nie aus diesem Schuh Champagner getrunken, aber das Bild hält sich. Es ist auch nicht das einzige dieser Art. Übrigens glaube ich, dass wir zu 90 Prozent auf denselben Partys waren. Nur dass man Diepgen dabei nicht angesehen hat, dass es ihm Spaß macht (beide lachen).
Haben Sie sich zu Amtszeiten bemüht, das Bild von sich zu kontrollieren: also mehr Aktenfresser und weniger Partymeister?
Wowereit: Das Bild hat mir ja nicht geschadet. Ich bin wiedergewählt worden. Aber den roten Schuh, den hätte ich danach immer fallen lassen.
Ihnen, Herr Diepgen, haben die Berater vor einer Wahl die Kampagne „Diepgen rennt“ als Gegengift zum „blassen Eberhard“ übergeholfen. Haben Sie das gern gemacht?
Diepgen: Ich bin immer gejoggt, aus gesundheitlichen Gründen. Aber die Kampagne hatte noch einen anderen Hintergrund. Bei der Vorbereitung der Wahlen im Jahr 1999 hatte mir damals Peter Radunski …
… Ihr Kultursenator …
Diepgen: … gesagt: „Das Problem bei den nächsten Wahlen bist du!“ Ich sei schon zu lange im Amt; Kritiker würden behaupten, ich sei verbraucht. Also musste ich mit einem Bild der Bewegung und Leistungsfähigkeit verbunden werden. Damals lief im Kino der Film „Lola rennt“. So entstand „Diepgen rennt“. Und es hat funktioniert. Übrigens haben wir früher auf den „blassen Eberhard“ immer gekontert: blasser Spargel ist Qualitätsspargel (lacht).
Wowereit: Diepgen war sehr detailbeflissen, hatte aber große Anlaufschwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Das erinnert mich ein bisschen an Angela Merkel. Aber er kannte diese Stadt wie kaum ein anderer, deshalb ist da ein hoher Respekt. Ich neige eher zum Barocken und er zum Calvinistischen.
Diepgen: Damit kann ich leben. Anlaufschwierigkeiten – wenn es sie gab – waren meist dem Thema geschuldet.
Herr Diepgen, 1999 haben Sie haben die Wahl wiedergewonnen, wurden dann aber 2001 von Klaus Wowereit aus dem Amt gejagt. Auslöser war der Berliner Bankenskandal. Hat das Wunden hinterlassen?
Diepgen: Mir war immer klar, dass Klaus Wowereit als SPD-Fraktionsvorsitzender jede Gelegenheit packen würde, um den Senat abzulösen und die SPD nach vielen Jahren wieder zur Nummer 1 zu machen. Ist da was hängen geblieben? Ich sage jetzt nicht, dass ich damals glücklich darüber gewesen war. Es hat mich geärgert, dass mir Verantwortung zugeschrieben wurde, die ich gar nicht hatte. Aber es war Wowereits Job.
Klaus Wowereit
Das sagt sich heute so leicht...
Diepgen: Veränderungen lagen in der Luft, auch Veränderungen im Verhältnis zur PDS. Nach vielen Grundsatzentscheidungen hatte die Berliner Politik die Mühen der Ebene erreicht; das wirkte nicht mehr kraftvoll. Und es wird Sie überraschen, dass ich das sage: Aber für die Koalition mit der PDS gab es viele Argumente. Sie erschien verlässlicher als die Grünen. Ich hätte diese Koalition an Wowereits Stelle auch in Erwägung gezogen.
Sie erkennen also Wowereits Argument an, dass die rot-rote Koalition auch eine Versöhnung der beiden Stadthälften war?
Diepgen: Ja. Ich würde mehr von Miteinander reden. Aber das waren andere Linke als heute. Inzwischen gibt es eine Reideologisierung. Nicht die pragmatischen Gebrüder Wolf. Den Marsch in die Vergangenheit gibt es bei Linken und auch bei den Berliner Grünen.
Wowereit: Ich glaube, dass die Koalitionen mit der damaligen PDS nicht die schlechteste Zeit für Berlin waren. Aber sie waren natürlich höchst umstritten. Auch in meiner Partei. Das war ein Tabubruch.
Ein Tabubruch war auch Ihr Wahlkampfspruch 2001: „Ich bin schwul, und das ist auch gut so.“ Herr Diepgen, was haben Sie damals gedacht, als Sie das gehört haben?
Eberhard Diepgen
Diepgen: Ich war erstaunt, dass er das sagt.
War das Kalkül, Herr Wowereit?
Wowereit: Es kam aus dem Bauch. Aber es gab auch eine Vorgeschichte: Ich habe es schon vor dem Parteitag im Landesvorstand erklärt. Dass ich es auf dem Parteitag sage, davon haben mir alle abgeraten. Es wussten zwar viele Journalisten, aber es war kein öffentliches Thema. Mir war aber klar, dass es das im Wahlkampf werden würde. Die Wortwahl war spontan.
Diepgen: In der öffentlichen Wahrnehmung war der Satz damit verbunden, dass Berlin sich öffnet, attraktiver wird, internationaler. Für die Anziehungskraft Berlins war der Satz wichtig. Er war ein Teil des Erfolgs von Klaus Wowereit.
Wie ist das heute: Bilden die Parteien die Vielfalt in der Stadt ab oder bleiben sie hinter der Realität zurück?
Diepgen: Die Politik ist eher vorneweg, verglichen mit der Mehrheit der Menschen in der Stadt.
Das gilt aber nicht, was den Frauenanteil in Ihrer Partei angeht.
Diepgen: Da bin ich vielleicht ein Mensch des vergangenen Jahrtausends. Ich halte die Diskussionen über Quoten für falsch und rechtlich fragwürdig. Das Verfassungsgericht hat ja gesagt, man müsse sich nicht mehr entscheiden, ob man Männlein oder Weiblein ist. Ist da eine Frauenquote zeitgemäß?
Sie sind doch noch konservativer, als wir dachten.
Diepgen: Das ist nicht konservativ, sondern fortschrittlicher, als Sie denken. Konservative Politik macht Veränderungen erst möglich, klärt dabei aber erst ab, welche Folgen das hat.
Haben Sie auch konservative Anteile, Herr Wowereit? Sie galten in der SPD ja immer als Linker …
Wowereit: Interessant, nicht wahr? Natürlich habe ich konservative Anteile. Aber mein Gesellschaftsbild unterscheidet sich doch sehr von dem der Konservativen. Wobei sich in den etablierten Parteien da viel getan hat in den letzten Jahrzehnten, etwa mit der Ehe für alle.
Herr Diepgen, Sie haben 2016 Ihrer Partei empfohlen, sich mehr hin zur AfD zu öffnen, bis an den rechten Rand zu rücken. Sehen Sie das heute noch genauso?
Diepgen: Das war vor vier Jahren. Die AfD hat sich seitdem verändert. Man weiß noch nicht, welche Entwicklung sie nehmen wird.
Aber wir sehen doch gerade einen zunehmenden Rechtsextremismus, der sich auch in der AfD und ihren Wahlerfolgen manifestiert.
Diepgen: Heute mehr als damals. Ich bin sehr vorsichtig bei jeder Form von Extremismus, von links wie von rechts.
Den Satz haben wir jetzt erwartet!
Diepgen: Schön, wenn sich Vorurteile bestätigen. Ich bin in der Tat in meiner politischen Arbeit durch gewaltsame Attacken von links geprägt worden. Ich wurde lange von Polizisten begleitet, nicht weil von Rechtsextremen Gefahren ausging, sondern von Linksextremen. Auch meine Kinder wurden oft von Personenschützern zur Schule begleitet. Natürlich ist eine besondere Sensibilität nach rechts notwendig, auch aufgrund der deutschen Geschichte. Man muss aber über eine längere Zeit beobachten, wie sich neue Parteien entwickeln. Ich erinnere an den Satz von der Holzlatte, mit dem der Sozialdemokrat Holger Börner einst jede Zusammenarbeit mit den Grünen ablehnte. Eine Zusammenarbeit mit der AfD kann für die Zukunft auch nur sehr vorsichtig in Erwägung gezogen werden. Noch ist nicht sicher, wer da im Machtkampf gewinnt.
Wowereit: Der Ausdruck „vorsichtig“ ist mir hier eindeutig zu wenig.
Diepgen: Welchen empfehlen Sie denn?
Klaus Wowereit
Wowereit: Eine klare Abgrenzung. Wir haben Tausende Beweise, dass eine breite Funktionärsschicht dieser Partei rechtsextremistische Positionen vertritt. Für eine demokratische Partei ist damit jede Annäherung ausgeschlossen.
Diepgen: Ich kenne keinen Landesverband der AfD, mit dem eine Zusammenarbeit zurzeit möglich erscheint, auch nicht auf Bundesebene. Auf der kommunalen Ebene kann ich eine gemeinsame Abstimmung oder Zusammenarbeit nicht ausschließen. Man kann nicht gegen eine vernünftige Maßnahme stimmen, nur weil die AFD dafür ist.
Herr Diepgen kann ihrem Tabubruch von 2001 mit der PDS etwas abgewinnen. Für einen Tabubruch der CDU mit der AfD hätten Sie, Herr Wowereit, aber kein Verständnis?
Wowereit: Auf keinen Fall. Eine Zusammenarbeit oder auch nur eine Akzeptanz der AfD ist nicht akzeptabel. Auch die CDU muss nach links schauen – sie arbeitet ja auch mit den Grünen zusammen. In Berlin ist das allerdings ein bisschen schwieriger.
Was schätzen Sie denn von ganzem Herzen an den Grünen?
Diepgen: (überlegt lange) Sie sind sehr verschieden. Es ist ja ein Unterschied, ob ich es mit Herrn Kretschmann oder mit Canan Bayram...
... der in Friedrichshain-Kreuzberg direkt gewählten Bundestagsabgeordneten...
Diepgen: ... und Berlins Justizsenator Dirk Behrendt zu tun habe. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich – wenn ich mit den Kandidaten der Union nicht einverstanden wäre – in dem einem oder andern Wahlkreis auch mal grün wählen würde. Aber gegenwärtig nicht in Berlin.
Wowereit: Da bin ich konservativer! Natürlich gibt es eine Diversität auch in meiner Partei von Leistungen und Kandidaturen, die man unterschiedlich betrachten kann. Aber die Sozialdemokratie hat weiterhin meine Präferenz.
Könnten Sie sich vorstellen, eine rot-rot-grüne Koalition zu leiten?
Eberhard Diepgen über die taz
Wowereit: Natürlich. Wobei Dreierkonstellationen nicht leicht zu führen sind.
Diepgen: Unter Klaus Wowereit wäre das eine oder andere, was sich Michael Müller gefallen lässt, nicht passiert!
Wowereit: Das könnte sein. Man muss schon mal ’ne klare Kante zeigen, auch als Person. Und man sollte nicht immer nur faule Kompromisse machen.
Sie kennen die taz seit ihrem Bestehen. Wie hat sich ihr Bild von der Zeitung gewandelt?
Diepgen: Ich bin hier zu Gast und darf nicht unhöflich sein...
Wir sind tolerant...
Diepgen: Ich finde, die taz ist gut gemacht und auch heute die Überschrift (hebt die Zeitung hoch): Das ist spritzig, das ist gut, das gefällt mir. Aber Information und Meinung sind nicht ausreichend genug getrennt. Die taz wirbt ja auch damit, sie wolle die Welt verändern.
Herr Wowereit, aber Ihr Leib- und Magenblatt sind wir doch, oder?
Wowereit: Aus meiner Sicht ist die taz unverzichtbar im Meinungsspektrum, das ist ja leider nicht mehr so vielfältig wie noch vor einigen Jahren. In meiner Zeit habe ich in der taz nicht meine Klientel angesprochen, da gab es andere. Aber die taz ist ja auch nicht mehr die Zeitung der 80er. Und manche Redakteure von der taz sind heute die konservativsten Kommentatoren bei Springer. Das ist fast unglaublich.
Diepgen: Es ist ja schön, wenn Leute was dazulernen. Aber zum Spektrum der Menschen in dieser Stadt gehört die taz. Dem stimme ich zu.
Klaus Wowereit
Herr Wowereit, Ihnen hat die wiederholte Verschiebung der BER-Eröffnung das Genick gebrochen. Hätten Sie gern über 2014 hinaus weitergemacht?
Wowereit: Also mein Kopf sitzt noch ganz fest drauf. Aber natürlich war die Entwicklung des BER ein Punkt, die immer wieder zu Recht kritische Fragen aufgeworfen hat und die auch nicht als Glanzstück übrig bleibt. Aber die Verantwortung dafür ist ein bisschen einseitig bei mir abgeladen worden – schließlich gehört der Flughafen auch zu Teilen dem Bund und dem Land Brandenburg, nicht nur Berlin.
Dann sind Sie glücklich, dass der Flughafen jetzt aufgemacht hat?
Wowereit: Natürlich.
Diepgen: Ich war auch zur Eröffnung eingeladen. Aber der Flughafen hatte meine private Anschrift gar nicht mehr.
Wowereit: Meine auch nicht, dabei war ich mal Aufsichtsrat. Die Einladung kam über die Senatskanzlei. Das finde ich schon scharf.
Haben Sie zwischendurch bezweifelt, ob der Flughafen je aufmacht?
Wowereit: Nie. Ich weiß, dass viele das erhofft haben, aus den unterschiedlichsten Gründen. Das ärgert mich. Denn neben dem vielen, was schiefgelaufen ist: Diese Freude über das Scheitern fand ich immer abstoßend.
Das waren die Medien?
Wowereit: Nicht nur. Die transportieren ja nur. Auch bei anderen, bei Kabarettisten...
Eberhard Diepgen
Das ist doch deren Job.
Wowereit: Aber gibt Grenzen, ich frage mich, was die nun machen. Es gibt viele Großprojekte in Deutschland, die lange brauchten, die Elbphilharmonie oder Stuttgart 21. Aber eine derartige Häme gibt es nirgendwo sonst. Ich finde, die Berliner müssen mehr Selbstbewusstsein zeigen: Wenn in Hamburg die Attacke von außen kommt, dann schließen die die Reihen. Wenn Berlin das passiert, dann hauen sie in Berlin erst recht aufeinander ein.
Die Häme gegen Berlin – die gibt es nicht nur beim Flughafen. Sondern auch beim regelmäßigen S-Bahn-Chaos oder wenn es drei Wochen dauert, bis man das Auto angemeldet bekommt.
Diepgen: Drei Wochen?! Wie haben Sie das so schnell geschafft? Meine Tochter wartet mittlerweile drei Monate darauf. Eine Diskussion zur Flughafenpolitik will ich hier nicht fortsetzen, das wäre ein weites Feld.
Was steckt denn hinter dieser Häme. Etwa dass sich die Provinz an der Großstadt abarbeitet?
Diepgen: Da steckt noch mehr dahinter: Wenn Sie auf die – im kommenden Jahr – 150-jährige Geschichte der Hauptstadt Berlin blicken, dann erkennen Sie: Es gibt kulturelle Vorbehalte aus der Rheinbundrepublik gegen die ostelbische Hauptstadt. Aber es wird langsam besser.
Wowereit: In allen Ländern wird die Hauptstadt nicht nur geliebt. Blöd ist es aber, wenn man selbst die Vorlagen liefert, so wie bei der Autoanmeldung.
Sie beide haben Ihr ganzes Leben in Berlin verbracht. Haben Sie nicht etwas verpasst?
Wowereit: Ich hätte als Schüler oder Student mal länger ins Ausland gehen sollen. Das stand aber damals in meiner Situation nicht auf der Tagesordnung. Ansonsten wüsste ich nicht, wo ich sonst leben sollte.
Diepgen: Wenn ich länger in meinem Ferienhaus in der Lüneburger Heide bin, entwickle ich immer wieder Sehnsucht zurück. Aber nach dem Amtsantritt von Herrn Wowereit hätte ich diese Stadt für mindestens zwei Jahre verlassen und in der Welt rumreisen müssen.
Klaus Wowereit
Wowereit: Immerhin waren Sie in Australien.
Diepgen: Aber nur einen Monat.
Wowereit: Als ich zurückgetreten bin, hat er mir das auch geraten: Gehen Sie mal raus!
Und warum haben Sie das nicht gemacht?
Wowereit: Ich hatte keinen Anlass.
Was machen Sie eigentlich heute?
Wowereit: Nichts.
Diepgen: Ich habe eine Fülle ehrenamtlicher Tätigkeiten.
Wowereit: Ich genieße meine Freiheit, mache viel Sport. Was ich vermisse, ist Kultur. Da fehlt viel.
Wegen der Pandemie?
Wowereit: Ich war bei ein paar Veranstaltungen, aber immer mit einem komischen Gefühl. Das ist etwas, das mein Leben sehr stark beeinträchtigt.
Dieses Interview ist Teil der Sonderausgabe zu 40 Jahren taz Berlin. Sie erscheint im Print am Samstag, 7. November. Darin außerdem: Vier Essays über vier Dekaden Berlin und ein Text über das schwierige Verhältnis von taz und Polizei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen