: DieIch-Geschichte
Carlott Bru ist Journalistin und Influencerin. Sie steht für eine junge Generation, die gerade die Spielregeln des Journalismus verändert. Ist das gut – oder ein Problem?
Aus Hamburg und Berlin Ann-Kathrin Leclère und Alice von Lenthe (Text) und Timo Knorr (Fotos)
Jetzt bin ich schon ein bisschen aufgeregt“, sagt Carlott Bru in das iPhone ihres Freundes, ihr Gesicht ganz nah an der Kamera. Sie dreht sich um, läuft zur Bühne, steigt hinauf und begrüßt die Schulklassen vor sich zur „Tincon“ in Hamburg. Die Tincon ist ein Festival für digitale Jugendkultur, einst als Ableger des Digitalkongresses „re:publica“ gegründet, es findet auf dem Gelände einer alten Fabrik statt.
Etwa 200 Jugendliche sitzen vor Carlott Bru, sie wirken teils wenig enthusiastisch. Sie können heute Virtual-Reality-Brillen testen, Minecraft spielen und Vorträge von Influencer:innen, Journalist:innen und Wissenschaftler:innen hören. „Wie das Internet in real life“, sagt Bru. „So geil!“ Sie moderiert die Veranstaltung, ihr Freund filmt und begleitet sie.
Mit dem Internet kennt sich Bru aus. Auf Instagram und Tiktok postet sie täglich Fotos und Videos, zeigt ihren Follower:innen, wie sie sich schminkt, was sie shoppt, wo sie Urlaub macht. In anderen Videos klärt sie über virale Online-Phänomene oder gesellschaftliche Themen auf. Auf Instagram folgen ihr über 30.000 Leute, mit ihrem erfolgreichsten Video erreichte sie eine Million. Es zeigt die Reaktion ihrer Eltern auf einen Artikel von ihr in der Süddeutschen Zeitung. Bru verdient Geld, indem sie auf ihren Kanälen Produkte bewirbt, Cracker oder Ökostrom zum Beispiel. Dafür wird sie von den Firmen bezahlt. Das ist so üblich in ihrem Metier: Carlott Bru ist Influencerin. Einerseits.
Andererseits beschreibt sich Bru auf den Plattformen als Journalistin. Und das ist sie auch. Sie schreibt neben der Süddeutschen Zeitung auch für die Zeit und den Spiegel. Derzeit besucht sie die Deutsche Journalistenschule (DJS) in München. Sie bewegt sich fließend zwischen dem, was sie die alte und die neue Welt nennt. Print und Social Media. Journalistin und Influencerin.
Letzteres Berufsbild wurde vor allem in der Medienwelt lange belächelt. Dabei ist es gerade dabei, den klassischen Journalismus auf den Kopf zu stellen. Carlott Bru wird dafür nicht nur gefeiert, denn auf ihren Kanälen steht Werbung Seite an Seite mit journalistischer Arbeit.
In einem Reel vom September 2024 sitzt sie vor ihrem Laptop und spricht in die Kamera: „Ich zeige euch jetzt meinen Giiirl-Pausensnack“ – den sie immer zubereite, wenn sie dringend eine Auszeit brauche. Im nächsten Schnitt steht sie vor ihrer Küchenzeile, bittet die Zuschauenden, das unabgespülte Geschirr zu ignorieren, füllt Joghurt und Brombeeren in eine Schale und nimmt sich dann eine Packung „Pausen Cracker“ der Marke Lorenz. „Den finde ich halt richtig geil, den Mix mit Salz“, sagt sie. In anderen Reels nimmt sie ihre Follower:innen mit auf Recherche in einen Kältebus für Obdachlose oder in einen OP-Saal für eine Lipödem-Operation.
Klassische Medien verlieren zunehmend ihr Publikum, während Influencer:innen wie Bru journalistische Rollen übernehmen: Sie verbreiten, ordnen und kommentieren Nachrichten. Auf Tiktok und Instagram erreichen sie Millionen vor allem junge Menschen. Laut einer Bertelsmann-Studie sind diese Plattformen für 16- bis 27-Jährige die wichtigste Quelle für politische Informationen. Noch vor Schule, Familie, Freund:innen und traditionellen Medien. 60 Prozent der Befragten folgen mindestens einem politischen Influencer oder einer politischen Influencerin. In der Medienflut des Internets sehnen sich viele nach Identifikation. Deswegen funktioniert die Mischung aus persönlichem und journalistischem Content auch so gut.
Junge Menschen schenken ihre Aufmerksamkeit also eher Einzelpersonen im Netz als etablierten Medien. Diese versuchen deswegen gezielt, von der Reichweite einzelner Social-Media-Stars zu profitieren. Das war auch bei Carlott Bru so. Als freie Journalistin, Mitte zwanzig und bis dahin ohne formale Ausbildung in der Branche, landete sie eine Stilkolumne beim Spiegel. In fünf Folgen schrieb sie über Caprihosen, Cowboystiefel und Männerhaarschnitte. Ohne zigtausende Follower hätte das Wochenmagazin ihr dafür wohl nicht zugesagt, meint sie selbst. Denn normalerweise haben junge Kolleg:innen einen weiten Weg vor sich, bis sie einen derart prominenten Platz eingeräumt bekommen.
„Wir wählen externe Kolumnist:innen in erster Linie nach ihrer fachlichen Expertise, ihrem besonderen Blick auf ein Thema oder ihrer eigenständigen, relevanten Stimme aus“, antwortet ein Spiegel-Sprecher dazu auf Nachfrage. Eine Sprecherin der Tincon bestätigt der taz dagegen ganz offen: Carlott Bru sei für die Moderation der Veranstaltung auch ausgewählt worden, weil sich die Zielgruppe mit ihr „identifizieren“ könne. Brus Bekanntheit dient ihr als Sprungbrett.
Carlott Bru ist in Bielefeld aufgewachsen. Unter anderem Namen, aber dazu später mehr. Ihr Vater ist Hausmeister, die Mutter Grundschullehrerin. Als Kind will sie unbedingt Autorin werden. Mit acht schreibt sie sogar einmal ein Kinderbuch und schickt es an einen Verlag, bekommt aber eine Absage. Dann eben Journalistin, die verdienen ja auch ihr Geld mit Schreiben. Jemanden aus der Branche kennt sie nicht.
Nach dem Abitur macht sie ein Praktikum beim Westfalen-Blatt, ein weiteres bei Radio Gütersloh. Dort will sie am liebsten sofort moderieren, darf aber nicht. Während ihres Studiums an der Universität der Künste in Berlin folgt ein Praktikum bei einer Produktionsfirma und eines beim rbb-Radio. Nie ergibt sich daraus eine Anstellung oder auch nur eine freie Mitarbeit. Sie sieht dies als Misserfolge. „Ich habe gedacht, ich werde niemals einen Job in diesem Beruf finden“, sagt sie rückblickend.
Bru steht nun auf dem Hof des Tincon-Geländes, sie hat Pause. Für Content Creation – also das Erstellen von Social-Media-Beiträgen – brauche man vor allem Mut, sagt sie. Man müsse zunächst den „Cringe Mountain“ überwinden, den Berg der Scham, wenn man am Anfang noch wenig Follower:innen hat. Aber man könne sich alles selbst beibringen und brauche nichts als ein Handy. „Ich finde, das hat etwas Demokratisches.“ Und was, glaubt sie, braucht man, um in den klassischen Journalismus zu gelangen? „Kontakte.“ Carlott Bru findet, dass Beziehungen im Journalismus bisher eine zu große Rolle gespielt haben.
Nun aber dreht sich etwas. Es ist nicht mehr ausschließlich die Entscheidung von Medienhäusern, wer in die Branche einsteigt und wer nicht. Mut, Kreativität, Durchhaltevermögen, Nachfrage der Nutzer:innen und natürlich der Algorithmus der Plattformen sind heute ebenfalls entscheidend. Das heißt, Redaktionen verlieren ihre Funktion als Gatekeeper. Und nicht nur die.
Auch das Agenda-Setting, also die Entscheidung darüber, was bedeutend und was irrelevant ist, verschiebt sich. Carlott Bru erzählt, sie schicke Artikelideen oft an mehrere Redaktionen. Zuletzt eine zu neuen Facelift-Methoden in Hollywood, die Prominente wie Kris Jenner und Lindsay Lohan plötzlich Jahrzehnte jünger aussehen lassen. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Carlott Bru machte ein Video für ihre eigenen Social-Media-Kanäle darüber. Und das ging prompt viral.
Klar, manche Themen eignen sich besser für Videoformate als für Zeitungen. Die haben sicherlich auch andere Zielgruppen als Carlott Brus Online-Auftritt. Trotzdem gilt: Im Internet entscheiden eher die Konsument:innen darüber, was sie sehen wollen.
Die Zwischeninstanz bildet ein Algorithmus. Der lässt sich leichter von Nutzer:innen beeinflussen als eine Redaktion von ihren Leser:innen. Allerdings reagieren Algorithmen nicht neutral auf Vorlieben der Nutzer:innen, sondern verstärken gezielt das, was emotionalisiert.
Bei welchem Journalismus landen wir also, wenn er zunehmend von der Funktionsweise der Plattformen bestimmt wird? Und hat die Auswahl von Redaktionen nicht auch einen Wert?
Für Carlott Bru läuft es gut. Sie hat sich online eine stabile Community aufgebaut, kann durch Werbedeals die oft schlecht bezahlte Arbeit als freie Journalistin querfinanzieren und gelangt durch ihre Reichweite an Moderationen und Kolumnen. Für die Branche wirft der Aufstieg der Influencer:innen allerdings Probleme auf.
Zum Beispiel das der Fake News. Im Gegensatz zu klassischen Medien gibt es für Influencer:innen oder Newsfluencer:innen keine Fakten-Checks, kein Redigat in der Redaktion, keine Selbstverpflichtung zur Richtigstellung bei Fehlern, keinen Presserat, der Rügen ausspricht, keinen Medienstaatsvertrag.
Das hält auch Carlott Bru für ein Problem. Sie ist wieder runter von der Bühne, steht zwischen Technikequipment in der alten Fabrikhalle. „Es wäre schon gut, wenn es auf Social Media eine Art von Qualitätssicherung gäbe“, sagt sie und sucht nach einem Wort. Sie holt ihr Handy raus und spricht in die Diktierfunktion von Chat-GPT: „Wer ist für die Durchsetzung des Medienstaatsvertrags zuständig?“ Ah ja! Die Landesmedienanstalten. Das hatte sie gesucht. „Es wäre gut, wenn es so etwas ab einer bestimmten Reichweite auch online gäbe“, sagt sie. „Einen Kurs dazu, wie man besser recherchiert oder wenigstens eine Selbstverpflichtung, halt keine Scheiße zu verbreiten.“
Wie aber könnte das gelingen? Der Geschäftsführer des Deutschen Presserats, Roman Portack, erklärt im Gespräch mit der taz: „Der freiwilligen Selbstregulierung durch den Presserat kann sich jeder Betreiber eines journalistisch-redaktionellen Mediums anschließen, das nicht Rundfunk ist. Das gilt grundsätzlich auch für Content Creators.“ Der Presserat sei aber nur für Accounts von Redaktionen auf Social Media zuständig, nicht für die Accounts einzelner Journalist:innen oder Content Creators.
Dass der Presserat seine Kompetenzen ausweiten sollte, sei keine neue Forderung, sagt Portack. Trotzdem verlaufe genau hier die Grenze. Sie verstünden Journalismus so, dass er durch Austausch in Redaktionen entstehe. Der Presserat würde zudem nur in wenigen Ausnahmen Beschwerdeverfahren gegen einzelne Personen führen, nämlich dann, wenn es um deren persönliches Verhalten gehe. Denn es seien die Redaktionen, die die presseethische Verantwortung für ihre Texte tragen, sagt Portack.
Aber könnte man journalistische Influencer:innen nicht als Einpersonen-Redaktionen sehen? Für sie fehlt eine Kontrollinstanz wie der Presserat.
Videos wie die Cracker-Werbung von Carlott Bru stellen die Branche vor eine Grundsatzdiskussion darüber, wo die Grenzen zwischen Journalismus und Werbung verlaufen. Presseethisch erscheint das eigentlich klar. Im Pressekodex steht, Werbung müsse als solche klar erkennbar sein – etwa indem Zeitungen ihre Anzeigen markieren, oder im Podcast vor der Anzeige laut und deutlich „Werbung“ gesagt wird. Die Glaubwürdigkeit der Presse als Informationsquelle gebietet besondere Sorgfalt beim Umgang mit PR-Material, heißt es dort.
Auch für Influencer:innen gibt es klare Regeln in Deutschland: Sie müssen die Beiträge, in denen sie Werbung für Produkte machen, als solche kennzeichnen. Das hat Bru in ihren Kooperationen auch getan. Alles halb so wild also?
Nicht ganz. Denn wenn Journalist:innen auch Werbung machen, riskieren oder verlieren sie ihre Glaubwürdigkeit. Weil sie womöglich befangen sind, über die Lebensmittelbranche zu berichten, wenn sie gleichzeitig Produkte von Foodkonzernen bewerben. Oder überhaupt nicht mehr als unabhängig wahrgenommen werden, egal worüber sie berichten.
Vor etwa einem Jahr stand Carlott Bru selbst im Zentrum dieser Debatten. Kevin Gensheimer von der Berliner Zeitung kritisierte sie auf X für ihre Produktwerbungen. Der Beitrag wurde über 185.000 Mal angeschaut, in den Kommentaren wurde sie sowohl frauenfeindlich beleidigt und für ihre Werbekooperationen kritisiert als auch verteidigt. Auch das Branchenmagazin „Übermedien“ berichtete zu dem Fall und merkte an, dass Carlott Bru keineswegs die einzige sei, die derzeit auf dieses Modell setze. Aminata Belli oder Salwa Houmsi seien weitere Beispiele.
Neu ist dieses Phänomen allerdings nicht. Anzeigenteile gibt es schon seit Jahrhunderten als Finanzierungsmodell für den Journalismus. Heute säumt Werbung die Webseiten und Social-Media-Kanäle von Zeitungen, die digitale Version davon, sozusagen. Das gibt es auch bei der taz.
Und bereits vor den Hochzeiten von Social Media gab es einzelne Journalist:innen, die auch Werbung gemacht haben. Günther Jauch zum Beispiel, der unter anderem Biermarken und Lotterien bewarb und trotzdem eigene Sendungen im Öffentlich-Rechtlichen hatte. Bei Podcast-Hosts hat sich heute ein System etabliert, bei dem sie selbst Werbung einsprechen, anstatt einen vorproduzierten Spot einzuspielen. Anne Will tut das beispielsweise. Das Problem dabei: Nutzer:innen können zunehmend schwerer unterscheiden, was Werbung und was journalistischer Beitrag ist.
Roman Portack vom Presserat sagt, jemand, der als Content Creator und Journalist tätig sei, müsse die verschiedenen Rollen klar trennen. „Wenn man am Montag als Influencer:in tätig ist, gelten für die Inhalte unter anderem die Bestimmungen der Plattformen und des Werberats. Ist man am Dienstag journalistisch tätig, muss man sich an den Pressekodex halten.“ Für die Regulierung journalistischer Inhalte in den Sozialen Medien brauche es, so Portack, kein anderes Regelwerk als den bestehenden Pressekodex. Darin seien für Content Creator insbesondere die Ziffern 6 und 7 relevant, in denen es um Transparenz und die Trennung von werblichen und redaktionellen Inhalten geht.
„Was Werbung angeht, bin ich mit mir im Reinen“, sagt Carlott Bru. Für die Zeit an der DJS, also bereits seit einem Jahr, darf sie ohnehin keine Werbeverträge eingehen. Aber auch sonst habe sie damit kein Problem, sagt sie. Von den Summen, die freien Journalist:innen für ihre Artikel gezahlt werden, könne man eben nicht leben. Außerdem würde sie nie Werbung für Produkte oder Unternehmen machen, die sie für moralisch schlecht hält. Sie habe nie journalistisch über die beworbenen Produkte berichtet, sagt Carlott Bru – und habe dies auch in der Zukunft nicht vor.
Eine Journalistin, die versucht, auf Social Media klarzukommen, ist Leonie Sontheimer. Sie ist Mitgründerin des Netzwerks Klimajournalismus und hat als Freie zum Beispiel schon ein Social-Media-Format für den öffentlich-rechtlichen Sender „Funk“ gestaltet. Für die taz machte sie 2020 Klimaberichterstattung auf Instagram. Für sie besteht „ein Riesenproblem“ in der Verlagerung von journalistischen Inhalten auf Social Media, weil dort die Plattform-Logik gelte. Die Macht, diese Logik zu beeinflussen, liege allein bei den Unternehmen. „Wir Medienschaffende können nur mitspielen oder nicht, aber wir können die Spielregeln nicht beeinflussen.“ Das sei brenzlig.
„Auf den Plattformen hat nur eine wirkliche Chance, was für die Plattformen produziert wurde“, sagt sie. Momentan seien das vor allem Kurzvideos im Hochformat. „Wir müssen also die Kernbotschaft in ein Reel verpacken“. Diese Verkürzung sei ihr „großer Schmerzpunkt“. Schnell sprechen und die Videos schneiden sei das eine, aber: „Der Frage, ob die AMOC-Strömungen kurz vor dem Kollaps stehen, in 40 Sekunden gerecht zu werden, finde ich schlicht unmöglich.“ Sie brauche ja schon zehn Sekunden, um zu erklären, was AMOC – Atlantic Meridional Overturning Circulation – überhaupt ist. „Dann muss ich vermitteln, was die Folgen eines Kollaps wären und die komplexe Studienlage aufdröseln.“
In der alten und der neuen Journalismuswelt gebe es eben verschiedene Kulturen, sagt Carlott Bru. Sie finde es zwar „nice“, dass Objektivität in der Journalismusbranche als Ideal angestrebt werde. Aber: „Unsere Erfahrungen spiegeln sich immer in unserer Arbeit wider, das kann man nie ganz ablegen.“
Die Frage nach Objektivität begleitet den Journalismus seit seinen Anfängen. Schon Generationen von Reporter:innen stritten darüber, ob Neutralität überhaupt möglich oder nur ein professionelles Ideal ist. Damit Inhalte auf Social Media funktionieren, gelte sowieso: „Je subjektiver und persönlicher, desto besser“, sagt Bru.
Zwei Mädchen, vielleicht 14 Jahre alt, kommen im Saal der Tincon auf Carlott Bru zu und fragen etwas verlegen: „Dürfen wir ein Foto mit Ihnen machen?“„Die haben mich gesiezt!“ ruft Bru nach dieser Begegnung. So eine Distanz sei ja gar nicht ihr Vibe. Als sie kürzlich während eines Praktikums bei der Zeit ein Tiktok-Video mit dem Chefredakteur machen wollte, bemerkte sie erst beim Rausgehen, dass sie ihn während des gesamten Gesprächs geduzt hatte, erzählt sie. Giovanni di Lorenzo habe es aber „nicht so schlimm“ gefunden.
Bei so viel Wert, den Carlott Bru auf Transparenz, Nähe und Subjektivität legt, ist es schon bemerkenswert, dass sie sich für Social Media eine eigene Identität zugelegt hat. Denn Carlott Bru ist nicht Carlott Brus echter Name. Auch ihr Alter verrät sie nicht. Die namentliche Distanz mache es ihr einfacher, sich von Hass zu distanzieren, den sie unter ihren Beiträgen bekommt, erklärt sie.
Identität ist für Carlott Bru etwas, das sie selbst erschaffen kann. Sie sehe sich online auch als eine Art Kunstfigur, sagt sie. Dazu passt, dass sie ihre Selfie-Videos gerne im Fisheye-Modus aufnimmt, der ihr Gesicht verzerrt und ein bisschen comic-haft aussehen lässt, mit kleinem Kinn, großen Augen und riesiger Stirn. Sonst wirkt sie analog eigentlich genau so, wie sie sich auf ihren Kanälen gibt.
Es scheint als Influencerin schwierig zu sein, Privatleben und Beruf zu trennen. „Meine Mutter sagt, ich solle nicht auch noch jeden Tag Sport machen, sonst bekomme ich einen Burnout“, sagt Carlott Bru in der U3, auf dem Weg in die Sternschanze. „Sie versteht nicht, dass ich Sport machen muss, damit ich keinen Burnout bekomme.“ Jeden Morgen Yoga oder Pilates. Das sei die einzige Zeit am Tag, in der sie nicht dem unterliegt, was sie „Ökonomisierungslogik“ nennt.
Das Wort benutzt sie öfter während der Tincon. Für die Moderation bekomme sie nicht viel Honorar, aber man mache sowas halt für Visibility. Sichtbarkeit. Ihr Partner war den ganzen Tag dabei und hat sie gefilmt. Aber auch in ihrem Privatleben läuft ständig die Kamera. Das Material zu filmen, schneiden und posten kostet Zeit und Energie.
Für klassische Journalist:innen bedeutet es einen Paradigmenwechsel, wenn das Leben zwischen Content Creation und Journalismus ein Erfolgsrezept für Newcomer ist. Sicher wird es in Zukunft auch noch Jobs in der Branche geben, die im Hintergrund stattfinden. Investigativ-Recherchen zum Beispiel. Aber sollten Kolleg:innen, die schnell Karriere machen wollen, darauf setzen, sich online als Marke zu etablieren? Müssen sie es vielleicht sogar? Und heißt das, sie müssen so viel Privates wie möglich von sich preisgeben, weil es nun einmal das ist, was die Leute sehen wollen und was der Algorithmus pusht?
Seit einem Jahr ist Carlott Bru nun Schülerin an der Deutschen Journalistenschule. Die Aufnahme ist hart umkämpft, ein Abschluss öffnet fast allen Türen in die Redaktionen des Landes. Bru schaffte die Aufnahme im zweiten Anlauf – geholfen hätten ihr vor allem Tipps von ehemaligen Absolvent:innen, wie man das mehrstufige Bewerbungsverfahren meistert. Es war also auch hier eine Frage der Kontakte, sagt sie.
Ihre Reichweite dürfte ihr dabei noch nicht geholfen haben. Diese sei zwar eine zentrale Währung in der Branche, sagt Henriette Löwisch, die Leiterin der DJS der taz, bei der Aufnahme an der Journalistenschule spiele sie aber keine Rolle. „Niemand muss bei uns On-Air auftreten“, sagt Löwisch, „Es ist auch keine Voraussetzung, einen eigenen Social-Media-Account zu haben.“ Sich online eine Reichweite aufzubauen, rät sie denjenigen, die schon wissen, dass sie später einmal präsentieren oder moderieren wollen.
Und sie empfiehlt allen Studierenden, das Schicksal über ihre digitale Identität selbst in die Hand zu nehmen. Ja, Privates und Persönliches bringe Sichtbarkeit, berge aber auch Risiken. „Ich betrachte Leute, die solche Dinge machen, immer mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis. Bewunderung, weil ich es mich selbst nie trauen würde. Und Skepsis, weil ich denke: Oh Gott, hoffentlich geht das gut.“ Menschen die viel von sich online zeigen, können zum Beispiel einfacher ausfindig gemacht werden, das bereitet Löwisch Sorgen.
Aus diesem Grund bietet die DJS künftig Seminare an, in denen Studierende lernen, „wo sie ihre Grenze ziehen und wie sie sich vor Trollen oder Doxing schützen können“ – also vor Missbrauch von persönlichen Informationen. Auch könnten sich die DJS-Schüler:innen auf schulinternen Social-Media-Kanälen ausprobieren – „natürlich nur im Rahmen der journalistischen Standards“, sagt Löwisch.
Die Umwälzungen in der Branche beschäftigen auch die großen Medienhäuser. Der Spiegel etwa widmete seiner Plattform-Präsenz seit Frühling dieses Jahres ein ganzes Super-Ressort: Mit dem 46-köpfigen Team „Crossmedia“ will der Verlag die Marke in den sozialen Netzwerken stärken. Wie? An der Strategie arbeite der Spiegel gerade noch, schreibt ein Pressesprecher auf taz-Anfrage. Der Spiegel unterstützte seine „Journalist:innen dabei, sich auf externen Kanälen sicher zu bewegen, ohne dabei journalistische Grundsätze zu kompromittieren“. Wie genau, bleibt in der Antwort offen. Anfragen der taz an andere große Medienhäuser blieben unbeantwortet.
Besonders für die Öffentlich-rechtlichen ist Journalismus auf Social Media eine Herausforderung: Sie müssen Reichweite und Nähe schaffen, dabei aber auch ihrem besonderen Auftrag gerecht werden. ARD und ZDF haben sich zusammen eine ziemlich erfolgreiche Lösung dafür ausgedacht, das Content-Netzwerk Funk: Zielgruppe sind Menschen zwischen 14 und 29 Jahren. Funk ist aktiv auf wirklich allen wichtigen Plattformen. Formate wie das Auslandsjournal „Atlas“ sind in der Länge auf Youtube und in der Kürze auf Tiktok zu finden.
Viele Funk-Hosts sind Journalist:innen und Influencer:innen zugleich. Einen Widerspruch sehe man darin nicht, schreibt ein Sprecher der taz. „Unsere Creator:innen sind an redaktionelle Standards gebunden.“ Wichtig sei die Trennung zwischen privaten Social-Media-Accounts und den Funk-Angeboten. Kommerzielle Kooperationen oder Werbung sind auf den Funk-Kanälen untersagt. Creator:innen seien verpflichtet, Werbepartnerschaften im privaten Umfeld offenzulegen; bei möglichen Interessenkonflikten könne die Zusammenarbeit beendet werden. Zudem gälten innerhalb des Netzwerks klare Leitlinien. Journalist:innen hielten die redaktionellen Standards ein, Abnahmen stellten sicher, dass Inhalte unabhängig bleiben.
Mit einem eigenen Talentnetzwerk fördert Funk junge journalistische Hosts gezielt und hilft ihnen dabei, ihr Storytelling zu verbessern. Sie lernen dort, wie sie komplexe Themen Plattform-gerecht erzählen können. Leonie Sontheimer etwa hat für das Talentnetzwerk ihren Klima-Account entwickelt.
Die größte Herausforderung sei die Schnelllebigkeit der Plattformen, heißt es von Funk. Diese könnten für junge Zielgruppen schnell irrelevant werden, neue müssten kontinuierlich erschlossen werden. Von Facebook zu Instagram zu Tiktok. Langfristig stelle sich Funk auf veränderte Ausspielwege ein, um sich von großen Plattformen unabhängig zu machen.
Carlott Bru hofft, dass durch Social Media jungen Menschen schneller Chancen im Journalismus eröffnet werden und Kontakte weniger wichtig werden, um den Einstieg zu schaffen.
Henriette Löwisch von der DJS denkt, wenn Journalisten:innen von Influencer:innen lernen, wie sie eine Bindung zu ihren Nutzer:innen aufbauen, könnten sich wieder mehr Menschen vom Journalismus angesprochen fühlen.
Der klassische Journalismus könne, im Sinne der Plattformlogik, nur davon profitieren, sein Angebot visuell, sprachlich und inhaltlich stärker auf seine Zielgruppen zuzuschneiden, sagt Leonie Sontheimer. Außerdem denkt sie, Journalismus auf Social Media könne dafür genutzt werden, Themen schmackhaft zu machen. „Wenn Menschen etwas durchdringen möchten, müssen sie halt auch mehr als 40 Sekunden ihrer Aufmerksamkeit investieren“, sagt sie. Redaktionen sollten kurze Social-Media-Formate von Anfang an mitdenken.
Und Carlott Bru? Wird sie sich irgendwann für eine der beiden Welten entscheiden? „Social Media ist so viel dankbarer, es herrscht weniger Druck, ich kann da machen was ich will, und ich verdiene auch noch besser“, sagt sie. Gleichzeitig habe sie sich auch aus Überzeugung für den Journalismus entschieden. „Weil ich denke, dass seine Aufgabe mega wichtig ist für unsere Demokratie“. Sie schätze die Arbeit von älteren Kollegen und die Standards und Regeln der Branche.
Carlott Bru glaubt nicht, dass sie den ständigen Wechsel zwischen den Welten auf Dauer durchhalten kann. Irgendwann werde sie sich entscheiden müssen. So wie die alte Welt irgendwann entscheiden muss, wie sie in die neue Welt aufbrechen will.
Ann-Kathrin Leclère ist Redakteurin bei tazzwei. Sie hängt viel auf Social Media ab, natürlich nur für Recherchezwecke als Medienredakteurin.
Alice von Lenthe ist Volontärin der taz. Gelegentlich dreht sie Videos und hostet Podcast-Folgen.
Auch im Bundestalk, dem politischen Podcast der taz, geht es um die Zukunft des Journalismus: taz.de/bundestalk
Quelle: Tiktok
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Quelle: Statista
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Quelle: Infratest dimap/WDR
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