Die steile These: Komm Corona, mach uns klüger!
So normal es dieser Tage ist, die Normalität zu beschwören, zu vermissen oder zu verfluchen, so unklar ist: Was bedeutet das Wort denn?
H inter jeder Krise lauert eine Chance, pflegen Optimist:innen zu sagen. Das klingt so schön, so herzerwärmend therapeutisch, dass man glatt dran glauben möchte, nicht wahr? Leider gelingt es mir in diesen unseren Viruswochen nicht so recht. Lieber halte ich mich derzeit an einen Großmeister der gepflegten Skepsis, an den Austro-Anarcho Georg Kreisler: „Pessimismus ist Optimismus auf lange Sicht.“
Um 7.000 Neuinfektionen hauen jetzt also täglich rein, mehr als je zuvor. Sich vor einem „schlimmen Herbst“ zu fürchten, hat sich damit erledigt, denn gefühlt hat der Winter nun schon begonnen, und er wird diesmal extra lang und extra dunkel sein. Das Land scheint wie im Schock vor der aufbrandenden „zweiten Welle“, oder wie auch immer man die Katastrophe nennen mag, zu stehen. Doch nicht für alle wird es gleich schlimm werden, nicht jede:r wird von den Maßnahmen im selben Umfang betroffen sein. Alle wissen das. Und an diesem Punkt setzt ein großräumiges Grübeln ein, das nicht nur mich zunehmend umtreibt, wie mir scheint.
Gestatten, es spricht hier eine Frau mit MNS, Mundnasenschutz (frisch gewaschen und von Anfang an freiwillig aufgesetzt), weiß, alleinstehend, kein Kind, kein Haustier, kein Auto, im wackeligen unteren Drittel der sogenannten Mittelschicht zugange, gerade 50 geworden. Eine von den angeblich „egoistischen Singles“, so schimpfen manche gern. Eine, die sich nicht fortgepflanzt, dem Land keine potenziellen Steuerzahler:innen zugeführt hat, die keine Schul- und Kinderbetreuungsprobleme zu bewältigen hat, ob mit Corona oder ohne, und die deshalb besser die Klappe hält, wenn es ums Gemeinwohl geht – auch so mögen es einige sehen. Ebendies führt mich zu der Unruhe, die mich seit Monaten begleitet, jenseits von Desinfektionsdruck und unterdrücktem Hustenreiz.
Seit Corona über die Welt und auch über diesen unseren Landstrich kam, gehe ich fast jeden Abend mit derselben Frage schlafen: Deutschland, du mittelprächtiges Mittelgebirge, Reich der zerkrümelnden Mischwälder und abgehalfterten Fußgängerzonen, des Mietenwahnsinns und der SUVs, der blitzsauberen Cum-Ex-Geschäfte und der weniger sauberen Problemviertel, der Anleger und der Abgehängten, Deutschland, du neurotisches Niedriglohnwunder – wer bist du eigentlich?
Was ist normal?
Just in diesen Tagen machen Linguist:innen sich wieder daran, das Wort und das Unwort des Jahres zu ermitteln. „Maskenpflicht“ und „Covidiot“ dürften ganz vorn dabei sein. Ich hätte da noch einen anderen Vorschlag: das Wort „Normalität“. Erstens hat es dieses Jahr bislang geprägt wie kein anderes (vom C-Wort einmal abgesehen); zweitens würde es für beide Kategorien gleichermaßen taugen – als Wort wie auch als Unwort des Jahres. „Wann kehren wir zurück zur Normalität?“, fragen die Zeitungen. „Wir müssen uns an eine neue Normalität gewöhnen“, mutmaßen die TV-Talkrunden. „Mama, Papa, wann wird es wieder normal?“, wollen Schulkinder wissen.
So normal es dieser Tage also ist, die Normalität zu beschwören, zu vermissen oder zu verfluchen, so unklar ist: Was bedeutet das Wort denn? Wer meint was damit? Hat eine Normalität je existiert? Oder handelt es sich um eine gesellschaftliche Fiktion, vielleicht die wirkmächtigste, die wir kennen? Außerdem und überhaupt: Wer zur Hölle ist dieses wir – wer soll das sein?
Hierzulande existieren ja schon lange etliche Normalitäten nebeneinander her, auch wenn es einigen erst in der Pandemie aufgefallen sein mag: Da sind die glücklichen 46 Prozent (die Autorin eingeschlossen), die theoretisch und praktisch vor dem Virus ins Homeoffice fliehen können. Manche von ihnen finden diese Option auf eine ausgeglichenere Job-Leben-Balance so toll, dass sie unablässig und fast schon aufdringlich von Entschleunigung schwärmen, von self care und Achtsamkeit faseln und das Internet mit Fotos ihrer dekorierten Heimschreibtische vollspammen.
Und da sind die anderen gut 50 Prozent: sogenannte Frontarbeiter:innen, die sich als Bahn-, Klinik-, Pflegepersonal, Supermarktkassierer:innen, Fleischarbeiter:innen täglich in den Sturm der Aerosole begeben müssen. Für ihre Tätigkeiten – sie werden „systemrelevant“ genannt, weil ohne jene Jobs der Gesamtbetrieb zusammenbrechen würde – und die damit einhergehenden Normalitäten wurden sie im Frühling beklatscht und mit „Thank you!“-Memes in den sozialen Medien bedacht.
So lange, bis einige von ihnen darauf hinwiesen, dass es statt digitaler Herzchen bitte gern auch bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne regnen dürfe. Ganz so fix hat es damit nun erst mal nicht geklappt. Tja – oder was soll man dazu sagen?
Weitere Fragen: Was würde eine Ausgangssperre für Wohnungslose bedeuten? Wie gehen Spielsüchtige mit verrammelten Stadtteilcasinos um? Und wie kommen Flaschensammler:innen an ihr Material, wenn niemand unterwegs ist, der seinen Müll fallen lässt?
Und es sind noch viel, viel mehr Normalitäten zu vermelden: hier die mobile Klasse, die über geplatzte Oster-, Pfingst-, Sommer-, Herbst- und Winterurlaube heult – dort die immobile Klasse, der schon die Kosten für ein Tagesticket für die U-Bahn das Budget zerhauen können. Hier das Leben auf dem Land, wo ohnehin nie viel los war und wo man die frische Luft und den freien Auslauf nun bestimmt besonders genießt – dort die Stadtbewohner:innen, die ihren sonst so begehrten urbanen Lebensraum jetzt mitunter als gruselig empfinden, überall Menschen!
Corona, ein Monster
Hier die Einpersonenhaushalte – dort die Alleinerziehenden und die Familien. Und innerhalb der Familien oft nochmals zwei unterschiedliche Normalitäten: Geht es um die weltberühmten häuslichen Aufgaben, erledigt sie das meiste vom Meisten, er ein wenig vom Wenigen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Auf der einen Seite die Jungen, die als Superspreader verdächtigt, auf der anderen Seite die Alten, die als Risikogruppe weitgehend abgeschottet werden. Von einem covidinduzierten „Generationenkonflikt“ war in den jüngsten Tagen reißerisch hie und da die Rede, und eine repräsentative Umfrage eines Instituts mit dem zeitlosen Namen „Heute und Morgen“ ergab Anfang der Woche: Gleich nach der Furcht, sich selbst mit dem Virus anzustecken – 23 Prozent nannten dies als ihre größte Corona-Angst – kommt die bange Erwartung einer sich verschärfenden „Spaltung der Gesellschaft“ (20 Prozent).
Abgesehen davon gibt es natürlich auch noch die Normalität der Menschen mit nichtweißer Haut oder dem „falschen“ Glauben, derjenigen, die sich als trans oder inter begreifen und all der anderen, die noch nie wirklich dazugehört und sich schon immer gefragt haben, was das für eine Normalität sein soll – wenn sie darin bedroht werden und mitunter um ihr Leben fürchten müssen.
Corona ist ein Monster, nicht nur die gesundheitlichen, auch die wirtschaftlichen, sozialen und seelischen Folgen haben für viele längst verheerende Ausmaße erreicht. Tatsächlich nimmt die soziale Ungleichheit gerade weltweit zu, wie etwa die Hilfsorganisation Oxfam und der Soziologe Christoph Butterwegge berichten. Gleichzeitig funktioniert das Virus wie ein Rückspiegel: Die lange schon bestehenden Nöte verschiedener Berufs-, Bevölkerungs- und sogenannter Randgruppen sind durch seine Anwesenheit stärker in die öffentliche Diskussion gerutscht.
Manche Kommentator:innen sprechen inzwischen vom „Lupeneffekt“, den die Pandemie aufs allgemeine Bewusstsein habe, andere bezeichnen die Coronakrise als „Bewusstseinskatalysator“. Im Sinne Georg Kreislers gesprochen: Alles wird gerade noch viel schlimmer, als es eh schon war – aber wenigstens sehen wir es jetzt.
Eine Dosis Optimismus
Die halbwegs gute Nachricht ist: Dieses D-Land, das seine vielen verschiedenen Wirs gern in einer großen zufriedenen „Mitte“ zu bündeln versucht, ist bislang vergleichsweise glimpflich durch die Coronamonate gekommen. Hoffentlich gilt das auch für die kommenden Wochen. Die ebenfalls ganz gute, wenngleich mindestens so anstrengende Nachricht ist: Für danach steht einiges an Nachbereitung an.
Wessen Arbeit ist wie wichtig fürs große Ganze – und sollte auch entsprechend bezahlt werden? Wie sind „Pflichten“ und „Belohnungen“ in dieser Gesellschaft verteilt? Wie ließe sich aus all den unterschiedlichen Normalitäten, die der Corona-Strahler so hell beleuchtet hat, eine neue, dauerhafte, fairere und wahrhaftigere Normalität schaffen?
Wenn wir nicht ganz blöd sind, werden wir aus dieser Pandemie Lehren ziehen können, die weit über Fragen des Infektionsschutzes hinausgehen. Das, wenigstens, könnte eine Hoffnung, ja vielleicht wirklich eine Chance dieser Krise sein.
Nun ja, vielleicht ist das doch eine zu große Dosis Optimismus. „Als der Zirkus in Flammen stand“, sang Kreisler... Ich glaube, ich muss jetzt mal an die frische Luft.
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