Die steile These: Britneys Freiheit ist auch unsere
Das Leben der Pop-Sängerin wird durch Vormundschaften fremdbestimmt. Fans plädieren für die Selbstbestimmtheit von Spears: für sie – und sich selbst.
In der Welt des Pop gibt es kaum ein Schicksal, das tragischer ist als das von Britney Spears. Die Sängerin ist eine der erfolgreichsten Popstars unserer Zeit, aber so unfrei wie ein Paradiesvogel im Käfig. Spears, auch schon 38, stand zwölf Jahre unter der Vormundschaft ihres Vaters. Ende 2019 übertrug er sie zum Teil an eine Mitarbeiterin. Für Britney Spears bedeutet diese Vormundschaft: Sie kann weder privat noch beruflich bestimmen, was sie tun und was sie lassen will.
Ihrer Entmündigung vorausgegangen waren mehrere Nervenzusammenbrüche, die Britney Spears erlitten haben soll. Inwiefern die Entscheidung verhältnismäßig war, kann von außen niemand sagen, dafür aber, dass die Einschränkungen extrem weitreichend sind. Sie sollen Spears’ medizinische Betreuung, die Kontrolle von Besuchen, Autofahrten und jede noch so kleine Besorgung umfassen. Die Vormundschaft hat Spears – mehr als im Showgeschäft üblich – zur Marionette eines Imperiums gemacht, das sie selbst erschaffen hat. Die Princess of Pop ist längst nicht mehr als eine Prinzessinnenattrappe, die mit ihren Gesangs- und Tanzkünsten das Geld einsammeln darf, um einen ganzen Apparat zu unterhalten.
Zahlreiche Mitarbeitende profitieren von der Marke Spears mit ihrem 59 Millionen US-Dollar schweren Vermögen. Da liegt es nahe, dass eine Gefährdung dieses einträglichen Systems unter allen Umständen verhindert werden muss. Grund genug, den Status quo aufrechtzuerhalten.
So sehen es die Unterstützer:innen der #FreeBritney-Bewegung, die die Sängerin aus ihrer Gefangenschaft befreien wollen. Aktuell sind sie in heller Aufregung, weil mal wieder darüber debattiert wird, wie es mit der Vormundschaft weitergeht. Und das interessiert viele: Der Hashtag #FreeBritney auf Tiktok ist fast zwei Millionen Mal aufgerufen worden, Hunderttausende haben #FreeBritney-Petitionen unterzeichnet, Miley Cyrus und Cher gehören zu den Sympathisantinnen.
Überall versteckte Botschaften?
CNN, Guardian, Spiegel, New York Times und New Yorker widmen sich ausführlich der Causa Spears. Doch warum berührt so viele Menschen ihr Schicksal?
Hartnäckige Gegner hatte ihre Vormundschaft schon immer, seit Anfang 2019 ist die Empörung aber noch mal gewachsen. Der Auslöser waren zwei sich widersprechende Begründungen der plötzlichen Absage ihrer Las-Vegas-Show „Domination“ und der Rücktritt ihres Co-Vormunds. Als Grund für die Absage gab die Sängerin Gesundheitsprobleme ihres Vaters an. Kurze Zeit später behauptete ein Rechtanwaltsgehilfe im Podcast „Britney’s Gram“, die Show sei abgesagt worden, weil ihr Vater sie nach der Verweigerung ihrer Medikamente in die Psychiatrie einwies. Aber hätte die Vormundschaft nicht, wie eigentlich geplant, schon 2009 beendet sein sollen?
Sorgen machte der Bewegung auch Spears’ einziger Kommentar zu der Debatte: Es gehe ihr trotz familiärem Stress gut. Das stand für ihre Fans im krassen Widerspruch zu den zahlreichen, devot wirkenden Selfies und Videos ihres Instagram-Accounts. Sie waren sich sicher: Britney braucht Hilfe – und zwar sofort!
Überall entdecken die Fans versteckte Botschaften: So sei die Anzahl der von Spears abonnierten Accounts (116) ein Hinweis auf die US-amerikanische Notrufnummer (911) und die Mitteilung, ihr Lieblingsfilm sei „Die Eiskönigin“ – eine Prinzessin wird mit Zauberkräften gefangen gehalten – eine Anspielung auf ihre ausweglose Situation.
Schockierte Öffentlichkeit
Aber wie war Britney Spears in diese Situation geraten? Mit Mitte 20 hatte sie alles erreicht: eine Karriere als Kinderstar, mehrere Nummer-eins-Hits („... Baby One More Time“, „Oops! I Did It Again“) und weltweiten Ruhm. Doch ab 2006 stürzte sie ab: Alkoholexzesse, Fahrten ohne Führerschein, Besuche vom Jugendamt, die Scheidung vom Vater der beiden Söhne, der erste Aufenthalt in einer Suchtklinik.
Nichts schockierte die Öffentlichkeit so sehr wie der Moment, als sie, im Gefolge Dutzender Paparazzi, in einen Friseursalon in Los Angeles marschierte und sich mit einem Langhaarschneider die Haare abrasierte. Eine Frau, die sich eine Glatze schneidet, muss verrückt geworden sein! Weitere Klinikaufenthalte folgten, eine Schlacht um das Sorgerecht, die sie verlor, Entmündigung.
Dass Spears damit nicht einverstanden war, machte sie zu Beginn mehrfach deutlich, doch über die Jahre schien sie die Vormundschaft akzeptiert und als beschützende „Bubble“ zu empfinden, wie es 2016 aus ihrem Umfeld hieß. Mittlerweile jedoch gilt das Verhältnis zwischen Vater und Tochter als zerrüttet, unlängst soll er ihr und ihrem neuen Freund sogar verboten haben, ein Baby zu bekommen.
Vergangenen Herbst gab er dann einen Teil seiner Vormundschaft vorübergehend ab, offiziell wegen gesundheitlicher Probleme. Seitdem obliegt die private Fürsorge für die Sängerin bei Jodi Montgomery, bei der sie, ginge es nach Spears, auch bleiben soll. Darüber hinaus würde sie ihrem Vater am liebsten komplett die Kontrolle über sich entziehen und anstelle von ihm einen erfahrenen Treuhänder einsetzen, ließ ihr Anwalt kürzlich verlautbaren. Dies lehnte das Vormundschaftsgericht nun vorerst ab – mit der Begründung, es fehlten noch Unterlagen.
Was war zuerst da: Problem oder System?
Wie der Wunsch nach der großen Freiheit klingt Spears' Wunsch nach Montgomery als Vormundin auch nicht. Aber wer so lange im Käfig saß, muss das Fliegen vermutlich erst wieder lernen – wenn fliegen denn überhaupt das Richtige ist. Angeblich leidet Spears an einer bipolaren Störung, die es nötig macht, sie zu unterstützen. Aber musste man sie deshalb gleich unter Vormundschaft stellen? Alles verworren!
Sicher, was sich damals abspielte, sah nach krassem Kontrollverlust aus, aber wie es wirklich war, wissen wir als Außenstehende nicht. Und was war zuerst da, ihre psychischen Probleme oder ein gnadenloses System, das diese Probleme erst hervorrief? Wer möchte, kann eine Antwort in ihrem Song „Piece of Me“ finden, den sie in dieser Zeit herausgebracht hat:
I’m Miss American Dream since I was seventeen / Don’t matter if I step on the scene / Or sneak away to the Philippines / They still gon’ put pictures of my derriere in the magazine / You want a piece of me? / You want a piece of me
Spears singt darin von der Unmöglichkeit, dem eigenen Schicksal zu entkommen. Denn egal, wie sehr sie sich bemüht, sie bleibt immer das Mädchen von nebenan – ohne Recht auf Selbstbestimmung. Ohne die Möglichkeit zu entscheiden, ob sie lange Haare oder kurze haben und ob sie ein trällerndes Sexsymbol sein will oder nicht. In dem Papatriarchat, das ihr Vater errichtet hat, ist jeder noch so verzweifelte Ausbruchsversuch zum Scheitern verurteilt.
Eine Projektionsfläche für alle
Die Vormundschaft besiegelte nur noch, was schon immer zwischen den Zeilen stand: Britney Spears’ einzige Daseinsberechtigung sollte die einer verführerischen Kindfrau sein, die sexy vor der Kamera tanzt und über doppeldeutige Dinge singt. Dementsprechend bleibt ihr auch nichts anderes übrig, als sich in ihre vorgeschriebene Rolle zu fügen und die ewig 16-Jährige zu mimen, nach der die Öffentlichkeit verlangt, seitdem sie „Oh baby, baby“ über den Schulflur hauchte.
Allerdings ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Nummer als Berufsjugendliche nicht mehr funktioniert. Schon jetzt sieht man trotz Instagram-Filter die ein oder andere feine Linie in ihrem Gesicht. Aber wie soll sie so in Würde altern? Und wann darf sie herausfinden, wer sie wirklich ist?
Es sind Fragen wie diese, die sie zur Projektionsfläche für all jene machen, die nicht als heterosexueller weißer Mann auf die Welt gekommen sind. Denn ist es nicht so, dass auch sie sich in ein System einfügen müssen, dessen Regeln sie nicht gemacht haben? Und mitspielen, wenn sie nicht riskieren wollen, beleidigt, ignoriert, verprügelt oder sogar ermordet zu werden?
Kein Wunder also, dass sich so viele mit Britney Spears’ Leidensweg identifizieren und für ihre Befreiung kämpfen. Es ist nicht nur ein Kampf für die Sängerin, sondern genauso sehr ein Kampf für sie selbst.
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