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Die neuen Wunder des Stefan BeuseFernweh nach sich selbst

In „Das Buch der Wunder“ verquickt Stefan Beuse Realismus mit dem Unerklärlichen. Mit seiner fast spröden Sprache umgeht er das Kitschpotenzial des Plots

Versucht schreibend eine Art ewigen Moment einzufangen: Autor und Werber Stefan Beuse Foto: Miguel Ferraz

Auch wenn man jeden Tag schreibt, kann es dauern, bis so ein Roman fertig ist. Fünf Jahre hatte sich Stefan Beuse für seinen vorigen Roman „Alles was du siehst“ Zeit genommen. Dieses Mal hat es sogar acht Jahre gedauert. Jetzt ist „Das Buch der Wunder“ erschienen, sein erster Roman im Mairisch Verlag. „Es gibt Bücher, die dauern so lange“, sagt Beuse. Ein paar Hundert Seiten hat er gekürzt, 220 Seiten hat der Roman nun.

„Das Buch der Wunder“ liest sich ein bisschen wie eine Coming-of-Age-Geschichte zwischen unprätentiösem Realismus und – ja, was? Fantasy, Mystik, Zauber? Zunächst sind da die ungleichen Geschwister Penny und Tom. Penny ist anstrengend und versponnen, Tom will die Welt erforschen und sezieren und ist sich sicher, dass man mit Wissenschaft alles erklären kann. Dann stirbt der Vater, die Familie zieht mit dem neuen Freund in eine sterile Reihenhaussiedlung, wo Penny eines Tages tot vorm Gartenteich umfällt.

Dann macht der Roman einen Zeitsprung, Tom ist Werber und trifft auf ein trotziges kleines Mädchen, und die Frage, wer er eigentlich mal sein wollte, wird wieder sehr dringlich. Der Plot birgt Kitschpotenzial, aber die nüchterne, manchmal fast ein bisschen spröde Sprache und das durch und durch Merkwürdige machen aus dem Roman einen wunderbaren Text, der in die gängigen Schubladen so überhaupt nicht passt: „Das Buch der Wunder“ ist schlichtweg auf eine sehr selbstverständliche und poetische Art und Weise seltsam. Am nächsten kommt es vielleicht noch der Tradition der spanischen Literatur, Realismus und Mystik zu verquicken.

Das Unerklärliche und Unberechenbare im Leben zu thematisieren, es als selbstverständlich darzustellen und gleichzeitig dessen Verstörung zu beschreiben, zieht sich durch Beuses gesamtes literarisches Werk. „Leute, die versuchen, was ich mit meinem Roman versuche, flüchten sich gern in Science-Fiction oder Fantasy. Ich finde das zu einfach“, sagt Beuse. „Science-Fiction heißt: Das, was du liest, passiert in der Zukunft. Es ist also eine Vision, die garantiert nichts mit deinem Leben zu tun hat. Fantasy sagt: Komm, gib mir deine Hand, wir lassen deine Welt jetzt mal ganz weit hinter uns und gehen in ein Land, in dem unglaubliche Dinge möglich sind.“ Ihm sei aber wichtig, die Bodenhaftung in seinen Texten so lange wie möglich beizubehalten. „Das ist natürlich eine Gratwanderung: Wie weit darfst du das, was alle für real halten, verlassen, ohne in die Kalenderspruch-Ecke zu geraten? Da sprachlich die Balance zu halten, ist einer der vielen Gründe, warum das Schreiben so lange gedauert hat.“

In „Das Buch der Wunder“ mischen sich naturwissenschaftliche Theorien mit einer mal religiösen, mal (natur)philosophischen Übernatürlichkeit. Beuse scheint insgesamt ziemlich theoriefest zu sein. Er behauptet aber, das alles nicht gelesen zu haben und sich eigentlich nur mit fernöstlicher Mystik und ihrer Ähnlichkeit zur modernen Quantenphysik beschäftigt zu haben. „Es gibt zum Beispiel das, was Einstein mal spukhafte Fernwirkung genannt hat. Wenn so genannte Zwillingsteilchen voneinander getrennt werden und mit dem einen Teilchen passiert etwas, reagiert das andere darauf, und zwar unabhängig von Zeit und Raum.“

Als religiös im klassischen Sinne bezeichnet Beuse sich nicht. „Dieser strafende Gott, der getrennt von uns als Autorität existiert, ist eher eine Erfindung der Kirche, um Leute kleinzuhalten“, sagt er. „Ich glaube nicht an eine höhere Macht in diesem Sinne, sondern eher an etwas, das in uns und gleichzeitig das Ganze ist. Vor allem aber glaube ich an Menschen und ihre Möglichkeiten.“ Es klingt eher nüchtern als esoterisch, wenn er sagt: „Es ist eher ein Wissen als ein Glaube.“

Die Schönheit des Buches liegt darin, eine Unaufgeregtheit gegenüber der Einsicht zu vermitteln, dass unter dem dünnen Boden der Erwartungshaltungen das „Fernweh nach sich selbst“, wie Beuse es nennt, permanent aus- und durchbrechen kann. Angstfreiheit gegenüber den inneren Wünschen und Abgründen – das ist eigentlich keine schlechte Botschaft in diesen Zeiten, in denen ein Titel wie „Das Buch der Wunder“ ein bisschen deplatziert wirken mag. „Ich weiß, dass das ein total größenwahnsinniger Titel ist“, räumt Beuse ein. „Aber irgendwann wusste ich, es darf eigentlich kein anderer sein.“

Seit er 1997 sein Debüt „Wir schießen Gummibänder zu den Sternen“ veröffentlichte, ist der heute 50-Jährige in der Literaturszene aktiv. Er bekam mehrfach den Hamburger Förderpreis für Literatur und gewann beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und seine Romane „Kometen“ und „Meers Stille“ wurden verfilmt.

Sein erstes literarisches Vorbild war der französische Schriftsteller Philippe Djian, der mit Romanen über Ausbruch und Abenteuer und einem von Tempo und Ruhelosigkeit geprägten Schreibstil in den 1980er-Jahren berühmt wurde. „Das war schon eine Initialzündung, weil seine Romane mir damals gezeigt haben, dass es möglich ist, in Büchern regelrecht zu leben und welche Kraft Literatur haben kann. Das waren keine Buchstaben, das war ein Gefühl. Und das wollte ich auch, so was erzeugen.“ Mit Djians späteren Werken kann er allerdings nicht mehr viel anfangen. „Nach seinen frühen Büchern hat er viel schreckliches Zeug geschrieben.“

Hauptberuflich arbeitet Beuse, auch eher bodenständig, als Werber. Die Werbebranche war bereits im 2002 erschienenen Roman „Die Nacht der Könige“ Handlungsschauplatz, mit dem zynischen Blick eines Frédéric Beigbeders, der in seinem Roman „Neununddreißigneunzig“ mit der Branche abrechnet, hat er aber nichts am Hut. „Werber sind größtenteils nette, harmlose Leute, keine Zyniker oder Menschenverachter, wie man so denkt. In ‚Das Buch der Wunder‘ ist diese Werbeagentur ja auch nur Nebenschauplatz. Das hätte auch eine Filiale der Deutschen Post sein können, wenn das besser gepasst hätte.“

Beuses Romane sind nie klar verortet, die Figuren sozial und kulturell kaum einzuordnen: „Die heißen eigentlich immer wie die Namen auf den Schildern trauriger Diner-Mitarbeiter.“ Ihm gehe es weniger um greifbare Geschichten eines einzelnen Menschen als um die Illustration eines Prinzips. „Ich gehe von Bildern aus, an denen mich etwas reizt, und lasse mich dann auf die Reise nehmen“, sagt Beuse, der nach dem Abitur zunächst eine Ausbildung zum Fotografen gemacht hat. „Ich komme aus Münster und wollte schon deswegen nicht studieren, weil Münsteraner Studenten damals den ganzen Tag mit Gitarren am See saßen und Bob Dylan gesungen haben.“

Sein Schreiben sei definitiv von der Liebe zur Fotografie geprägt: „Im Wesentlichen geht es in der Fotografie darum, dem Leben ein Bild abzutrotzen, das größer ist als der eingefangene Moment. Es deutet über den Augenblick hinaus und steht für das Ganze, obwohl es natürlich gleichzeitig Realität dokumentiert. Das perfekte Bild ist also eine Art ewiger Moment, und schreibend versuche ich, etwas Ähnliches herzustellen.“

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