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Die Zeitzeugin Wegen zwei Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg wurde Charlotte Oberberg aus ihrem Seniorenwohnhaus evakuiert. Die 92-Jährige ist früher selbst ausgebombt worden. Ein Gespräch über das Leben und politische Engagement einer umtriebigen Kreuzbergerin „Auf einmal war der Krieg wieder da“

Interview Plutonia PlarreFoto AmÉlie Losier

taz: Frau Oberberg, manche Leute sprechen nicht gern über ihr Alter. Wie ist das bei Ihnen?

Charlotte Oberberg: Och, das ist mir wurschtegal. Wenn mich einer danach fragt, dann sag ich das.

Werden Sie oft gefragt?

Ich fahre öfter Taxe. Ich unterhalte mich gerne mit den Leuten. Ich frage dann auch: Was sind Sie denn für ein Landsmann? Sind ja oft ausländische Taxifahrer. Und dann sprechen wir über das Land. Das finden die alle ganz gut. Die Taxifahrer fragen dann oft: Wie alt sind Sie denn eigentlich? Denn sage ich: Nu, raten Se doch mal. (lacht).

Und was kommt heraus?

Die raten mich komischerweise neuerdings immer noch jünger! Der Letzte hat mich so um die 70 Jahre geschätzt. Manche sagen Mitte 70. Höher ist noch keiner gekommen.

Erfüllt Sie das mit Stolz?

Das freut mich natürlich. Und dann lache ich und sage: Nö, also da müssen Se noch was zulegen. Weil ich nun so lebendig dabei bin, kommen die auf mein Alter sowieso nicht. Wenn ich dann sage, dass ich 92 bin, sind die alle perplex.

Sie leben in einem Seniorenwohnhaus in Kreuzberg. Man hat dort seine eigene Wohnung, kann aber auch an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnehmen. Kommen Sie noch viel mit Leuten außerhalb in Berührung?

Natürlich. Einmal schon durch mein Kabarett. Die Kreuz-und-Querberger habe ich ja mal gegründet. Uns gibt es jetzt schon über 24 Jahre. Da schreibe ich auch Stücke und spiele. Dann bin ich in der Arbeiterwohlfahrt, im Berliner Mieterverein, in der AG Barrrierefrei Wohnen. Und ich bin immer noch Mitglied bei Verdi, ich gehe auch zu den Mitgliederversammlungen. Al­so ich komme laufend mit Leuten zusammen – mit Jung und mit Alt.

Einsamkeit und Langeweile sind für Sie demnach Fremdwörter?

Also ich bin froh, wenn ich einen Tag mal gar nichts habe. Ich gucke auf meinen Kalender und denke: schon wieder das und das und das (klatscht im Rhythmus in die Hände). An einem freien Tag kann ich morgens im Bett meine Zeitung lesen. Oft steht ja was drin, was für mich sehr wichtig ist. Dann sehe ich, dass die U2 vielleicht nicht fährt oder die Sache mit der Bombe.

Das Seniorenwohnhaus in unmittelbarer Nachbarschaft zur taz liegt in dem Gebiet, das im Oktober innerhalb einer Woche zweimal wegen einer Bombenentschärfung evakuiert worden ist. Wie haben Sie das erlebt?

Das erste Mal hab ich das durch die „Abendschau“ mitgekriegt. Ach Gott, denke ich, jetzt holt dich dieses Bombenzeugs wieder ein.

Die Fliegerbomben stammen aus den Zweiten Weltkrieg.

Die Wohnung meiner Eltern, Gitschiner Straße 60, ist damals auch durch eine Sprengbombe zerstört worden. Die Bombe ging in die Hochbahn – die war danach eine Acht. Drei Häuser waren betroffen. Meine Eltern sind dann in die Naunynstraße gezogen.

Die Gitschiner Straße ist quasi um die Ecke von der Lindenstraße, wo im Oktober auf einem Baugrundstück die beiden Bomben gefunden worden sind.

Auf einmal war der Krieg wieder da. Nicht nur meine Eltern sind ausgebombt worden. In mein Zimmer im Luftwaffen-Lazarett in der Hermann-Göring-Kaserne in Reinickendorf ist 1943 eine Brandbombe geflogen. Auf der Hals-Nasen-Ohren-Abteilung hatte ich als Schreibkraft gearbeitet. Weil ich nicht jeden Tag von Kreuzberg nach Reinickendorf fahren konnte, hatte ich darauf bestanden, dort ein Zimmer zu bekommen.

Wo waren Sie zu dem Zeitpunkt, als die Bombe einschlug?

Im Luftschutzkeller. Aber wir haben das mitgekriegt. Trotz Bombenhagels haben wir sofort gelöscht.

Hatten Sie keine Angst?

In dem Moment ist einem das piepegal. Wir hatten Angst, dass das Feuer auf andere Zimmer übergreift. Auf dem Gelände war ein Riesenswimmingpool. Zu meinen Zimmer, das im Erdgeschoss lag, haben wir eine Eimerkette gebildet. Anfang 1944 ist unser Lazarett in drei Teile aufgelöst worden. Ich kam nach Bad Ischl ins Salzkammergut.

Frau Oberberg kramt in einer Schublade und holt ein Arbeitsbuch mit Hakenkreuz-Symbol heraus. Stabshelferin im Luftwaffenlazarett F/VIIIX48 Bad Ischl, lautet ein Eintrag.

Stabshelferin heißt was?

Das war das Gleiche wie Schreibkraft. Ich hatte ja kaufmännische Angestellte gelernt.

Der nächste Eintrag – es ist gleichzeitig der letzte: Stenotypistin bei der SPD, Bezirk Kreuzberg 17. 9. 1946.

Wie sind Sie zur SPD gekommen?

Meine ganze Familie war in der SPD. Als Arbeiter hat man sich mit der Partei verbunden gefühlt. Mein Vater war Arbeiter, meine Mutter Verkäuferin. Von drei Kindern bin ich die Älteste. Wir waren sehr arm.

Charlotte Oberberg

Die Berufstätige: 1923 in Kreuzberg geboren, erlernt nach acht Schuljahren den Beruf einer kaufmännischen Angestellten. Während des Zweiten Weltkriegs Arbeit als Schreibkraft im Lazarett. Nach dem Krieg Stenotypistin bei der SPD. Von 1948 bis 1983 im Bezirksamt Kreuzberg; erst als Stenotypistin, dann als Sachbearbeiterin in der Abteilung Jugend und Sport, später freigestellte Personalrätin.

Die politisch Aktive: Nach der Pensionierung 1983 ist Oberberg zehn Jahre Bezirksverordnete für die Alternative Liste; erst in der BVV Kreuzberg, dann in Neukölln. Bis heute Mitglied bei der Arbeiterwohlfahrt, dem Berliner Mieterverein, der AG Barrrierefrei Wohnen und bei Verdi. Sie tritt im Kabarett die Kreuz- und Querberger auf, das sie vor 24 Jahren gegründet hat.

Das Privatleben: Oberberg war zweimal verheiratet und hat eine Tochter, die heute 69 Jahre alt ist.

Die Bomben: Kurz nacheinander werden im Oktober 2015 auf einer Baustelle am ehemaligen Blumengroßmarkt in der Lindenstraße zwei 250 Kilo schwere Fliegerbomben aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden. 11.000 Kreuzberger werden binnen einer Woche zweimal einen ganzen Tag lag aus dem Kiez evakuiert. Charlotte Oberberg gehört zu ihnen. (plu)

Wie hat sich das geäußert?

Wir haben in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in der Gitschiner Straße gewohnt. Toilette halbe Treppe tiefer. Und wir hatten noch einen Untermieter, weil meine Eltern sonst finanziell nicht klargekommen wären. Für uns Kinder war der so eine Art Ersatzopa. Der hat uns Schach beigebracht. Der ist mit uns in die Kaufhäuser gegangen. Er hatte das halbe Zimmer. Tagsüber konnten wir es mit bewohnen. Aber wenn man überlegt, sechs Personen in eineinhalb Zimmern, kein Bad, nichts – das kann sich heute kein Mensch vorstellen.

Wie war Kreuzberg damals?

Da waren viele kleine Geschäfte. Kolonialwaren, Fleischerei, Bäckerei. Viele waren im Souterrain. Alles hatte man gleich in der Nähe. Das ist etwas, was ich sehr vermisse. Kleine Geschäfte, wo man auch richtig nett bedient wird.

Wo gehen Sie heute einkaufen?

Das macht jetzt viel meine Tochter für mich, die bringt mir das. Ansonsten gehe ich hier zu Lidl und Rossmann, in die Friedrichstraße und so. Ich esse ja auch sehr gern Süßigkeiten. Die hole ich mir bei Leysieffer. Süßigkeiten waren schon immer mein Laster. Sehr! (lacht) Schon als Kind hab ich heimlich aus der Zuckerdose im Küchenschrank genascht.

Wie alt ist Ihre Tochter?

Sie ist heute 69. Ich war zweimal verheiratet. Aber meine Tochter ist nichtehelich geboren. Ihren Vater hatte ich im Lazarett in Bad Ischl kennengelernt. Das war ein Fahnenjunker-Wachtmeister. Dessen Vater war Generalstabsoffizier in Ostpreußen. Und die hatten diesen (Frau Oberberg schnalzt mit der Zunge) – Dünkel.

Wie meinen Sie das?

Dass meine Eltern Arbeiter waren, das war das Schlimmste, was es gab. Dadurch ging die Sache auseinander. Ich war dann aber schwanger. Wie ich nach Berlin zurückkam, war ich schon im sechsten Monat.

Der Fahnenjunker hat nicht zu Ihnen gestanden?

Nein, der hat auf seine Eltern gehört. Mir blieb nicht anderes übrig, als das Kind alleine zu bekommen.

Wie sind Sie mit der Ablehnung klargekommen?

Ehrlich gesagt, es hat mich sehr geärgert. Wissen Sie, ich kann viel vertragen. Ich bin ein sehr starker Mensch. Wenn ich seitdem was höre von Standesdünkel – da isser bei mir aus, der Husten. Das lehne ich rundweg ab. Das Problem war, dass man mich in Berlin zunächst nicht wieder aufnehmen wollte. Man sagte: Bringen Sie uns eine Bescheinigung, dass Sie schwanger sind.

Wer hat darauf bestanden?

Die zuständige Meldebehörde. Als das Lazarett in Bad Ischl aufgelöst wurde, hatte ich keine Entlassungspapiere bekommen. Ohne Papiere wollte man mich aber nicht wieder nach Berlin reinlassen. Nur weil ich schwanger war, hat die Behörde eingelenkt. Ich musste zum Urban-Krankenhaus, um mir mit diese Bescheinigung zu holen. Aber was meinen Sie, was los gewesen wäre, wenn ich nicht schwanger gewesen wäre? Mein Geburtsort, wo man mich ja mal weggeschickt hat, der will mich nicht wieder aufnehmen? Das wäre ja noch schöner gewesen!

Wir machen jetzt einen großen Zeitsprung. Von der SPD sind Sie 1948 zum Bezirksamt Kreuzberg gewechselt. Dort waren Sie erst Stenotypistin, dann Sachbearbeiterin in der Abteilung Jugend und Sport, später freigestellte Personalrätin. Seit 1983 sind Sie im Ruhestand. Wie kam es eigentlich, dass Sie danach Bezirksverordnete der Alternativen Liste geworden sind?

Ich war in der Erneuerungskommission Kottbusser Tor. Ich wohnte damals am Kotti. Wegen des Nato-Doppelbeschlusses und der Kahlschlagsanierung war ich aus der SPD ausgetreten. Die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80er Jahre kam für meine Begriffe in Kreuzberg viel zu spät. Die hätten viel eher besetzen müssen. Ich war auch in den besetzten Häusern! Ich habe die Leute unterstützt. Und dann hat mich das mit den Ampeln am Kotti geärgert.

Was war das Problem?

Reichenberger/Ecke Skalitzer Straße, die Ampel hin zur Hochbahn. Ich bin da einmal mit Stoppuhr rüber. Vier Sekunden grün, 61 Sekunden rot! Das muss geändert werden, habe ich in der Erneuerungskommission gesagt. Ich habe alle Ampeln am Kottbusser Tor gemessen. Überall waren die Fußgänger im Nachteil. Unmöglich. Und da hat mich die Alternative Liste angesprochen, ob ich nicht für sie kandidieren will.

Wie lange waren Sie in der Bezirksverordnetenversammlung Kreuzberg?

Vier Jahre. Damals gab es ja noch das Rotationsverfahren. Dann kam die Wende und da habe ich gedacht: Jetzt bietest du dich Mitte an, die brauchen auch erfahrene Leute. Aber dann bekam ich einen Anruf von der AL Neukölln. Ob ich für Neukölln kandidieren könne? Eigentlich wollte ich nach Mitte, habe ich gesagt. Nein, mach das nicht, wir brauchen eine Frau, hieß es. Dann bin ich zu der Sitzung und habe gesagt: Ich mach das. Aber bitte nicht als Spitzenkandidatin. Die Zweite reicht mir. So bin ich in die Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung gekommen. Vier Jahre war ich noch dabei. Ich war dort auch Alterspräsidentin.

„Die Taxifahrer raten mich neuerdings immer noch jünger! Der letzte hat mich so um die 70 Jahre geschätzt“

Haben Sie Unterschiede zu Kreuzberg festgestellt?

In der BVV Neukölln gab es mehr so eine gehobene, strengere Art. Die Kreuzberger waren generell lockerer. Das hat mir viel besser gefallen.

Verfolgen Sie die Bezirkspolitik weiterhin?

Alles, natürlich. Ich bin in der Seniorenvertretung Friedrichshain-Kreuzberg. Für die sitze ich auch im Ausschuss Ordnungsamt und Wirtschaft. Als Seniorenvertreterin ist man nicht stimmberechtigt, kann aber zu allem was sagen.

Was sind bei den Senioren derzeit die drängendsten Probleme?

Die Wohnungssituation. Die Mieten. Die Armut.

Sie persönlich haben aber keine Geldprobleme?

Ganz und gar nicht. Ich hatte eine gute Stellung und habe entsprechend eine gute Rente.

Fühlen Sie sich privilegiert?

Ich habe nie vergessen, dass ich aus einer ganz armen Familie komme. So lebe ich auch.

Was heißt das?

Ich fühle mit den Menschen. Wenn mir jemand etwas Gutes tut, dann gebe ich etwas zurück.

Wenn man so alt ist wie Sie, denkt man da öfter über das Sterben und den Tod nach?

Ich verdränge es. Es kann morgen sein. Es kann in fünf Jahren sein. Deshalb sage ich immer: Es gibt für mich keinen Sinn des Lebens. Man wird ungewollt geboren und muss ungewollt wieder gehen. Das ist etwas, was ich nicht begreife. Da baut man sich was auf, und eines Tages biste nicht mehr da. Deshalb sage ich mir: Du fährst heute Taxe. Machst dir das Leben schön. Man kann ja nichts mitnehmen.

Sind Sie zufrieden, so wie Ihr Leben gelaufen ist?

Ich würde manches vielleicht anders machen. Man macht manchmal Fehler, aber das erkennt man erst im Nachhinein.

Gibt es ein Beispiel?

Charlotte Oberberg über Hausbesetzungen: Die Hausbesetzerbewegung Anfang der 80er Jahre kam für meine Begriffe in Kreuzberg viel zu spät. Die hätten viel eher besetzen müssen. Ich war auch in den besetzten Häusern! Ich habe die Leute unterstützt

Ich habe auch in der Ehe Fehler gemacht. Das ist mir eigentlich erst hinterher klar geworden.

Was meinen Sie?

Ich habe manches in gewisser Weise nicht so sehr an mich her­angelassen.

Waren Sie abweisend?

Nicht unbedingt. Aber vielleicht hätte man manchmal etwas liebevoller sein können. Vielleicht liegt das daran, dass man eine harte Kindheit hatte.

Welchem Ihrer Männer haben Sie sich am meisten verbunden gefühlt?

Rudolf, Rudi genannt, mein zweiter Ehemann. Vom dem ersten war ich geschieden. Nach sieben Jahren ging es auseinander. Wir haben uns nicht mehr verstanden.

Was war Rudolf für einer?

Rudi war 12 Jahre jünger als ich. Wir haben uns beim Tanzen kennengelernt. Er kam aus dem Osten. 1958, vor der Mauer, war er illegal abgehauen. Ich wollte erst gar nicht, weil er so viel jünger war. Aber Rudi war sehr hartnäckig. Er wollte mich haben. Und dann war das auch in Ordnung. Er war 32 und ich 44, als wir geheiratet haben. Wir waren 38 Jahre zusammen. Ich zeige Ihnen mal Bilder, wo wir beide in dem Alter sind. (Kommt mit zwei gerahmten Bilder aus dem Nebenzimmer zurück.) Den Altersunterschied hat nie einer gesehen.

Stimmt. Er sieht fast noch älter aus als Sie. Was ist aus Rudi geworden?

Er ist mit 70 gestorben. Er war Diabetiker und war herzkrank. Jetzt ist er schon zehn Jahre tot. Und er hat immer Angst um mich gehabt (lacht).

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