piwik no script img

Die WahrheitCelle hofft auf den Känguru-Effekt

Die niedersächsische Kleinmetropole ist infrastrukturtechnisch bald komplett dicht. Besuch in einer abgehängten Stadt.

Letzte Parade: In wenigen Tagen werden sämtliche Zufahrtstraßen nach Celle wegen Sanierungsarbeiten gesperrt Foto: Focke Strangmann

Die Wintersonne spiegelt sich glitzernd auf dem Wasser der Aller, als die Frau mit einem großen Schritt in ihren Holzkahn steigt. Sie greift nach dem langen Stab, der auf dem Boden des Kahns liegt, schiebt ihn langsam in das Flusswasser, immer tiefer hinein, bis sie den Grund erreicht hat. Dann stößt sie sich ab. Der Kahn gleitet leise in Richtung Flussmitte.

„Ich wollte immer schon mal auf der Aller staken“, ruft die Frau glücklich. Sie ist nicht alleine auf dem Fluss. Hunderte Menschen sind an diesem Wintermorgen ins Ortszentrum von Celle gekommen, um auf ihren traditionell geschnitzten Kähnen aus Kirschholz über die Aller zu staken. Flussaufwärts, flussabwärts gleiten sie über das Wasser. Manche von ihnen singen ortstypische Lieder oder feuern sich an.

Was lustig daherkommt, könnte ernster nicht sein. Seitdem die Cellerinnen und Celler erfahren haben, dass ihre Stadt für ein halbes Jahr von der öffentlichen Infrastruktur abgetrennt wird, übt eine wachsende Gruppe von ihnen das Staken. Sie bereiten sich darauf vor, lebenswichtige Güter über die Aller in ihre Stadt zu transportieren. Der kleine Fluss wird zur zentralen Lebensader, wenn in wenigen Tagen sämtliche Zufahrtsstraßen nach Celle wegen Sanierungsarbeiten gesperrt werden.

„Ick heff mol en Hamborger Veermaster sehn, to my hooday!“, schallt es vielstimmig über das Wasser. Das Seemannslied ist auch in Celle beliebt, in dieser geheimnisvollen Stadt, die bald abgeschottet sein wird vom Rest der Welt. Wenig war bisher über Celle bekannt. Viele Menschen wussten nicht einmal, dass diese Stadt existiert, irgendwo zwischen Soltau und Wolfsburg, zwischen Uelzen und Hannover. Wer lange recherchiert, erfährt, dass die Stadt 2001 beim Bundeswettbewerb „Unsere Stadt blüht auf“ den ersten Platz holte. Aber seither sind 24 Jahre vergangen und man hatte nichts Neues gehört aus Celle.

Plötzlich ist die Stadt in aller Munde

Bis jetzt. Plötzlich ist diese Stadt in aller Munde, plötzlich lebt diese Stadt, bäumt sich auf im Angesicht ihres bevorstehenden Einschlusses. „Wir haben ja immer noch uns“, sagen die Cellerinnen und Celler, wenn sie über die nächsten Monate reden.

Unten am Anlegesteg beschwört ein älterer Herr mit ortstypischer Holzmütze die Gemeinschaft. „Wir werden diese Stadt am Leben halten. Wenn wir nicht mit unseren Kirschholzkähnen die Aller hochstaken, dann wird diese Stadt von den Rosinenbombern abhängig sein“, prophezeit er. Ein Junge heult auf: „Aber ich mag doch keine Rosinen!“ – „Dann musst du das Staken üben, Junge!“, ruft der Mann und springt zurück auf seinen Kahn.

Über Lebensmut lernt man viel in Celle, in dieser von Baustellen eingeschnürten Stadt. Schon lange war klar, dass die Bundesstraße aus Hannover einsturzgefährdet ist. Ein Aprilregen hatte sie unterspült. Aber dann meldeten die Behörden immer mehr marode Straßen. Zum Beispiel die Verbindung nach Beedenbostel, auf der tiefe Schlaglöcher das Fahren verunmöglichen. Oder die Straße nach Hambühren, unter der Kinder beim Spielen kürzlich ein riesiges Senkloch entdeckten, vermutlich verursacht durch illegalen Bergbau.

Wie viel Pech kann eine Stadt haben? Celle hat in dieser Hinsicht neue Maßstäbe gesetzt: Gleich alle Zufahrtsstraßen auf einmal kaputt, Sanierungsstau extrem. Für ein halbes Jahr wird kein Auto, erst recht kein Lastwagen in die Stadt hineinfahren oder sie verlassen. Und auch die Zugstrecke ist defekt, weil die Metalldiebe immer dreister zuschlugen.

Die Cellerinnern und Celler bringt all das nicht aus der Ruhe. Auf dem Marktplatz hat der Bürgermeister einen Infostand aufgebaut. „So gedeiht Kohlrabi auf der Fensterbank“, steht auf einem ausgelegten Flyer zum Thema Subsistenzwirtschaft. Daneben liegt eine Broschüre über autarke Stromversorgung, in der sich ein Kapitel über „Windenergie durch Niesen“ findet.

Man weiß ja nie …

„Keine Sorge!“, beruhigt der Mann am Infostand. Die Strom- und Wasserversorgung von Celle werde nach aktuellen Erkenntnissen nicht eingestellt. „Aber man weiß ja nie!“, sagt er lächelnd und deutet auf eine Broschüre zur Trinkwasserversorgung. „Regentonnen selber töpfern“ steht auf dem Heft.

Am Wochenende wird die Stadt eine Videokonferenz organisieren. Insulaner von den Fidschi-Inseln und Hallig Hooge sollen den Cellerinnen und Cellern ihre drängendsten Fragen zur bevorstehenden Abgeschiedenheit beantworten. Denn Fragen gibt es viele in Celle. Zum Beispiel, ob die Lebensmittelversorgung über die Aller ausreichen wird.

Am Infostand räuspert sich eine Dame mittleren Alters. Sie habe auch eine Frage, ob nämlich infolge der Isolation neue Sprachen und Kulturen in Celle entstünden. Oder gar neue Flora und Fauna, schiebt sie nach. Einige Menschen in Celle hoffen auf den Australien-, den Känguru-Effekt. Wenn die Menschen hier in den nächsten Monaten plötzlich anfingen zu hüpfen und ihre Kinder in Beuteln großzuziehen, würde das den Bekanntheitsgrad der Stadt deutlich steigern. Ob es so weit kommt?

Als es Abend wird in Celle, beenden die Leute ihre Stak-Übungen auf der Aller. Eine Woche haben sie noch, bis die letzte Zufahrtsstraße nach Celle gesperrt wird. Nicht mehr viel Zeit, um sich vorzubereiten. Die Menschen machen ihre Boote am Ufer fest und setzen sich ihre Holzmützen auf. Unwillkürlich hält man inne und beobachtet, wie sie noch eine Weile zusammenstehen. Während sie das heutige Staken besprechen, bricht langsam die Dämmerung über ihnen herein. Es ist eines der letzten Bilder aus Celle, einer Stadt, die sich einschwört auf eine einsame Zeit.

Gemeinsam für freie Presse

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Alle Artikel stellen wir frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade in diesen Zeiten müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass kritischer, unabhängiger Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Ach was! Vagel Bülow

    🤿 🕳️ Damals bekannt am Zonenrand:

    “…Zum Beispiel die Verbindung nach Beedenbostel, auf der tiefe Schlaglöcher das Fahren verunmöglichen. Oder die Straße nach Hambühren, unter der Kinder beim Spielen kürzlich ein riesiges Senkloch entdeckten, vermutlich verursacht durch illegalen Bergbau.!“

    Och. Soo - entstand das Celler Loch?! Och 🙀



    Kann’s mal sehn - allns verkehrt!



    Wi wi dat fröher höbt allns lehrt! 🙀🧐🥳

    Fazit - Celler 🕳️🕳️🕳️🕳️🕳️🤷



    Volkers 🫦 🎶 Das Kängeru das Kängeruh



    Das nähte sich den Beitel zu



    Aus lauter langer Wei‘hele



    Mit einer Nagelfei‘hele • 🎶

    Quelle: Celler 🎵gut



    Dedicated to CE

    unterm— 💣 🔥



    Als Celler Loch wurde die Aktion Feuerzauber[1]des niedersächsischen Verfassungsschutzesbekannt, bei der am 25. Juli 1978 ein Loch mit rund 40 Zentimeter Durchmesser in die Außenmauer der Justizvollzugsanstalt Cellegesprengt wurde. Damit wurde ein Anschlag zur Befreiung von Sigurd Debus vorgetäuscht, der als Terrorist der Rote Armee Fraktion (RAF) im Celler Hochsicherheitsgefängnis einsaß. Angeblich wollte man mit Hilfe dieser verdeckten Operationunter falscher Flagge einen Informanten in die RAF einschleusen. Die Öffentlichkeit und divers…

    • @Lowandorder:

      Aller-Anfang ist schwer...



      --



      „Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge



      Durch die Gärten und Felder zerschlägt,



      Wie der Fluß in Breit und Länge



      So manchen lustigen Nachen bewegt,



      Und, bis zum Sinken überladen,



      Entfernt sich dieser letzte Kahn.



      Selbst von des Berges fernen Pfaden



      Blinken uns farbige Kleider an.



      Ich höre schon des Dorfs Getümmel,



      Hier ist des Volkes wahrer Himmel,



      Zufrieden jauchzet groß und klein:



      Hier bin ich Mensch, hier darf ich `s sein!“



      (Goethe, Faust I – Osterspaziergang)