Die Wahrheit: Die letzte Mücke des Jahres
Da ist es wieder wie jedes Jahr um diese Zeit: Das kleine stechfreudige Wesen, das nachts im Schlafzimmer herumschwirrt. Zum letzten Mal.
E s ist erst ein paar Tage her, da hat mich die letzte Mücke des Jahres besucht. Sie ließ sich dieses Jahr recht spät blicken, aber zu spät war sie ja schon immer. In der Mückenschule kam sie fast nie pünktlich zum Stich, dabei war das Pflichtfach. Als in der Uni die meisten Kommilitonen längst mit Summen cum laude abgeschlossen hatten, war sie noch nicht mal im Mmmmmmaster.
Und auch jetzt ist sie eben wieder spät dran. Wie immer frage ich mich: Wie hat sie das Jahr zugebracht, wo hat sie überall gesteckt? Hat sie ihren Rüssel womöglich zu tief ins Glas gehalten und ist für ein Drittel ihres kurzen Lebens in einer Neige versackt? Hatte sie Stress mit einem ihrer 400 Nachkommen, weil die ihr bis zum heutigen Tag vorwerfen, sie nach der Eiablage einfach im Stich gelassen zu haben?
Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist: Nun ist sie da, genau in meinem Hier und Jetzt, gerade, als ich einschlafen will. Doch statt wütend zu werden, fokussiere ich mich auf sie, gebe ihr die Aufmerksamkeit, die sie verdient, denn die letzte Mücke des Jahres bleibt nur einen Tag. Ich bringe mein Blut in Wallung und atme tief ein und warm aus, um ihr ein wenig Hoffnung für ihren letzten Weg zu geben. Sie soll spüren, dass sie zwar wie immer zu spät ist, aber trotzdem willkommen.
Überhaupt: Dass die letzte Mücke des Jahres spät dran ist, ist gut so. Schließlich markiert sie das Ende des sonnigen Teils des Jahres, und ist sie verschwunden, gehen mit ihr auch die letzten grünen Blätter der Bäume. Entsprechend fahre ich wegen der letzten Mücke des Jahres nie aus Haut und Decke, sondern nutze ihr Erscheinen zur Einkehr, reflektiere die Vergänglichkeit der Welt und dass man nach 22 Uhr nicht mehr laut fluchen sollte.
Wohlig eingemuckelt lässt mich die letzte Mücke des Jahres nun wohliger brummen, gibt sie mir doch die Gewissheit, dass schon morgen eine Zeit ohne Mücken anbricht. Davor nehme ich noch ganz offiziell Abschied von Sommer und Herbst: Ein letztes Mal hänge ich den lauen Nächten des vergehenden Jahres nach, den Sprüngen auf tiefgrüne Welse, dem Knuspern der Wespe auf dem nachmittäglichen Bienenstich.
Morgen wische ich den Kürbis von den Treppenstufen und suche vergeblich meine Handschuhe. Ich mache die letzte Mücke des Jahres so zu einer Charakterprobe, zu einem ersten Test, ob ich bereit bin für den Winter. Falls nicht, ist noch genug Zeit, mit der Vorbereitung endlich anzufangen.
Die letzte Mücke des Jahres nimmt mir also den Schlaf, aber gibt mir Zeit zu sinnieren, was viel besser ist, denn schlafen kann ich ja noch reichlich, wenn sie tot ist. Aber den Sommer verabschieden und dem Winter aus der Ferne schon mal freundlich winken, die Zeit würde ich mir sonst wohl nicht nehmen. Entsprechend würdig gestalte ich dann auch das Ende der letzten Mücke des Jahres und verewige sie für immer bei ihren Vorgängerinnen, an meiner weißen Raufasertapete.
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