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Die WahrheitBestialische Offenbarung

Nach kurzer Zeit im Proberaum plötzlich selber „Motörhead“ sein: Erinnerungen an eine vor 50 Jahren gegründete, 2015 aufgelöste, widerständige Band.

W er in der Schule zugab, AC/DC zu mögen, war nur ein unberatener Proll, wer von Motörhead schwärmte, fraß auch kleine Dackelwelpen. Ich kann mich noch erinnern, wie mein Bruder, immerhin ein Lederjackenrocker, auf ihren „Musikladen“-Auftritt reagierte. „Das ist ja nur Krach.“ Moderator Manfred Sexauer musste sich in Ironie flüchten. „Oijoijoijoijoi, Berlin erwacht, die lauteste Band der Welt.“

Diesen Widerstand mussten Motörhead überwinden. „Es hängt immer von den eigenen Entscheidungen ab, ob man unter die Räder kommt oder ob man seinen Weg geht“, wusste Lemmy. „Schon Kant sagte: ‚Wir sind verantwortlich für uns selbst.‘ In England mögen wir Kant, allein schon wegen seines Nachnamens.“

Auch wir arbeiteten hart daran, nicht unter die Räder zu kommen. Volker, Stefan, Kui und ich bildeten eine hochmotivierte Metal-Aktivisten-Zelle in unserem Heidedorf, aus der sich in gar nicht so ferner Zukunft die gar nicht mal so gute Heavy-Metal-Band Salem’s Law rekrutieren sollte.

Zum ersten Mal live sahen wir Motörhead Mitte der Achtziger. Mit dem Rickenbacker-Bass vorm Bauch schritt Lemmy stolz zum Mikrogalgen, warf den Kopf zurück, fuhr sich wie das Model im Drei-Wetter-Taft-Spot durch die versplisste Mähne und ließ sie im Luftstrom flattern. Die Menge verstand ihn nur zu gut und schnappte über. Er grinste verschlagen und hob geziert eine Hand. „Yes, I know!“

Irgendwann hatte sich Volker ein Schlagzeug gekauft, Stefan, Kui und ich besorgten uns japanische Gitarrenattrappen und brüllende Röhrenamps, die diesen herrlichen Matschsound erzeugten. Nach wenigen Wochen im Proberaum waren wir auf einmal selber Motörhead.

Originale konnten mithalten mit uns

In dieser Zeit kamen Lemmy und die anderen immer so um Weihnachten herum vorbei, und weil wir da sowieso nichts Wichtigeres zu erledigen hatten als die Wodkabowle im Proberaum, fuhr unsere Gang hin und schaute nach, ob die Originale noch mithalten konnten mit uns. Konnten sie.

Wie gut Motörhead wirklich waren, offenbarte sich mir bei einem Thrash-Festival in der Braunschweiger Eissporthalle Ende der Achtziger mit Destruction, Tankard, Sodom und Rage. Der Schalldruck war bestialisch, der Boden klebte von verschüttetem Bier und es roch nach Ziegenbock. Der Abend hätte nicht besser sein können, aber dann kamen diese knapp drei Minuten, die noch so viel besser waren – als Sodom mit ihrem „Iron Fist“-Cover alles auf den Punkt brachten.

Trotzdem haben in all den Jahren vermutlich mehr Menschen Lemmys Interviews gelesen als seine Musik gehört. Er wusste das. Als ihn ein Journalist mit der Sottise aus der Reserve zu locken versuchte, dass es nur eine schmale Linie zwischen hartem Trinken und Alkoholismus gebe, nahm Lemmy noch einen Schluck und sprach: „Klar, und es gibt eine schmale Linie zwischen Angeln und am Ufer stehen und wie eine Muschi auszusehen.“

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Frank Schäfer
Lebt als Schriftsteller in Braunschweig. Neben Romanen und Erzählungen erschienen diverse Sachbücher und Essaybände zur Literatur- und Kulturgeschichte. Zuletzt: Henry David Thoreau – Waldgänger und Rebell. Eine Biographie (Suhrkamp); Hühnergötter. Roman (Limbus); Notes on a Dirty Old Man (Zweitausendeins).
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