Die Wahrheit: Die Ersten werden das Letzte sein
Nachdem in Berlin die Autobahn A 100 eröffnet wurde, gibt es einen gigantischen Deppenstau auf dem Friedhof der Intelligenz. Kein Einzelfall.
Bereits vor der Eröffnung des 16. Teilstücks der Berliner Stadtautobahn A 100 lauerten die ersten Autodidaktiker auf den Start. Der Tagesspiegel berichtete: „Mit seinem goldgelben Golf GTI stand Lenz Schäfer schon seit Mittag ganz vorne in der langen Reihe von Autos. 'Auch wenn ich mir damit einige Hater einhandle: ‚Ich bin heiß darauf, als Erster über die Autobahn zu fahren‘, sagte er am Nachmittag, während er sich lässig aus seinem Autofenster lehnte.“
Für Nichtberliner sei kurz erläutert: Die Verlängerung der A 100 ist der teuerste und sinnloseste Autobahnabschnitt Deutschlands. Es ist, als hätte ein verrückter römischer Kaiser der Marke Caligula die Via Appia mit Gold pflastern lassen.
Wie bei vergleichbaren Projekten in China üblich, hat man auch hier für den Bau etlichen Anwohnern einfach mal die Bude unter dem Arsch abgerissen. Nun erbricht ein totes Autobahnende seinen Verkehr ungezügelt in die an dieser Stelle gar nicht dafür ausgelegten Stadtstraßen. Eine Planung, deren Motto lauten dürfte „Augen zu und durch“ oder, „Nach uns die Sintflut“. Ob Autobahn-Maut oder „Maskendeal“ – hier zelebriert die CDU ein weiteres Highlight in ihrer langen Geschichte ausgelassener Geldverbrennungsfeste.
Im Grunde ist es nur konsequent, dass vor dem dümmsten Straßenbauprojekt der Republik auch die dümmsten Automobilisten des Landes ungeduldig mit den Reifen scharren. Von 13 Uhr (Eröffnung) bis 16 Uhr (Freigabe der Fahrbahn für den allgemeinen Verkehr) stand der GTI-Fahrer hier mit seinem Angeberauto für Arme an. Und er war längst nicht der Einzige: „Durch die wartenden Motorradfahrer und Autofahrer bildete sich am Nachmittag dann ein derartiger Rückstau, dass zeitweise eine Kreuzung der Elsenstraße blockiert wurde.“
Diagnose Deppenstau. Doch nicht nur in der Hauptstadt feiern formidable Knalltüten als Happening ab, wenn öffentlich Gold zu Scheiße gemacht wird. Kein Wunder, in einem der anerkannt blödesten Staaten der Welt: Beim Bruttointelligenzquotienten pro Kopf (BIQ) landet Deutschland mit einem durchschnittlichen Wert von 77 im internationalen Vergleich auf Platz 190 zwischen Russland und den USA, in der gripsbereinigten Statistik sogar auf Rang 192 von 194 Nationen.
Sensationslust ohne Grenzen
Nur so ist es zu erklären, dass im ganzen Land Menschen anstehen, um bei der Eröffnung einer neuen Bushaltestelle, der Einweihung eines Riesenschachs im Kurpark oder der Erstbetretung einer frisch gepflasterten Garagenzufahrt ganz vorne mit dabei zu sein. Dafür harren sie oft tagelang bei Wind und Wetter aus. Da liegen dann schon manchmal die Nerven blank: Kürzlich gab es im Münchener Englischen Garten eine Massenschlägerei zwischen Hundebesitzern, die nach der Installation eines neuen Kotbeutelhalters unbedingt die ersten Nutzer sein wollten. Schneller, lower, rückwärtsgerichteter – die Sensationslust kennt schier keine Grenzen.
So auch in Stinklingen, einem Stadtteil von Pforzheim. Mit seinem vollen Mülleimer steht Frieder Seidel (49) trotz der hohen Temperaturen seit mehreren Stunden geduldig in der Warteschlange vor der dortigen Müllverbrennungsanlage. In Kürze wird hier Nora Binder (CDU), die stellvertretende Müllministerin des Landes Baden-Württemberg, gemeinsam mit Erzbischof Bert Biberle den lang ersehnten neuen Anbau III der Spezialstinkgasanlage weihen. Weder Gestank noch Gluthitze scheinen Seidel etwas anhaben zu können: „Egal, was die Hater sagen: Das Gefühl, hier als Erster meinen Müll zu verbrennen, ist unbeschreiblich.“
Als das Tor geöffnet wird, die Kapelle einen schmissigen Abfallmarsch spielt und die junge „Tatort“-Schauspielerin Avita-Lava von Kranz einen Schwarm weißer Ratten in die Freiheit entlässt, gibt es kein Halten mehr. Mehrere Hundert Schwaben rennen mit ihren Eimern zu den Förderbändern. Drängelnd, stolpernd, schreiend will jeder der Erste sein. Nicht wenige purzeln in die Kessel, wo sie bei 850 Grad Celsius verschmoren. Und zwar als Erste. Glückwunsch, denn diesen Rekord kann ihnen keiner nehmen, er ist eine Wegmarke für die Ewigkeit.
Künstliche Intensivstation
Auch bei der feierlichen Eröffnung von Abschnitt 7 der Intensivstation in der Berta-von-Mörike-Klinik in Hamburg-Eppendorf haben sich zahlreiche Interessierte beworben. Sie möchten die ersten Patienten sein, die an die hochmodernen Geräte angeschlossen werden, und auch die Ersten in der Geschichte der Medizin, denen infolge einer KI-generierten Einschätzung die Apparaturen wieder abgeschaltet werden. Der Pioniergeist in Technik und Wissenschaft ist und bleibt ein untrennbarer Teil der deutschen Seele.
Aus den chaotischen Zuständen, als hier vor einigen Jahren der neue Beinschneider in der Chirurgie eingeweiht wurde und die Amputationswilligen sich bis nach Norderstedt zurückstauten, hat man zum Glück gelernt. Die wenigen Gästeplätze wurden im Internet verlost; es gibt nur knappe Zeitfenster, um den laufenden Krankenhausbetrieb nicht allzu sehr zu stören.
Einer der Privilegierten, die einen solchen Slot ergattern konnten, ist Hauke Speenaker (75). Als Krankheitssenator Reginald Sümnich (Grüne) zu ein paar wohlgewählten Worten den wimpelgeschmückten Beatmungsschlauch durchschneidet, ist er in der ersten Reihe mit dabei. Und nicht nur das, denn weil es sein Tubus war, ist er auch der erste Todesfall im neuen Trakt. „Ich bin der Erste …“, röchelt Speenaker stolz, dann hat er es geschafft.
Doch zurück nach Berlin, wo eine schwarz-rote Koalition fleißig an einer neuen Dystopie der sterbenswerten Stadt werkelt. „Radwege zu Autobahnen“ ist dabei nur eines der Mittel. Denn die Demografie macht es möglich, dass der dringend benötigte neue Teilabschnitt 13 des „Friedhofs unseres heiligen Mütterles der späten Erkenntnis“ nun endlich eröffnet wird.
Da trifft es sich gut, dass ich gerade sechzig geworden bin und damit das zugelassene Alter erreicht habe, um mich dort schon einmal in der Schlange anzustellen. Geduldig warten wir mit Stullenbüchse und Thermoskanne auf die Eröffnungszeremonie durch Hans Hein (SPD), den Senator für Erd- und Feuerbestattungen. Hoffentlich darf man dann auch mal kurz probeliegen – darauf wäre ich so richtig heiß.
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