Die Wahrheit: Unsere Freunde, die Zeitreisenden
Es gibt diese unglaublichen Menschen im näheren sozialen Umfeld, die sich an keine Verabredung halten und nie, niemals, nicht pünktlich kommen.
D ie Adlers (Name geändert) sind seit über 30 Jahren unsere besten Freunde. Sie sind sympathisch, lustig und sehr unterhaltsam und man trifft sich wirklich gern mit ihnen. Sie haben nur einen einzigen Nachteil: Sie kommen immer zu spät.
Mit „zu spät“ meine ich nicht etwa, dass sie um 20.30 Uhr kommen, wenn man sich für 20 Uhr verabredet hatte. „Zu spät“ heißt in diesem Falle, dass sie um 21 Uhr anrufen und freudig mitteilen: „Wir fahren jetzt los und sind in Bälde da!“ Allerdings wohnen die Adlers in Mannheim und deshalb brauchen sie mit dem Auto selbstverständlich mindestens 60 Minuten bis in die Karlsruher Innenstadt – Parkplatzsuche noch nicht einberechnet. Das verdrängen sie aber immer wieder sehr geschickt.
Im Laufe der Jahre denkt man sich dann irgendwann Tricks aus. So verabreden wir uns beispielsweise „um 19 Uhr im Biergarten“, gehen aber selbst erst gegen 20.30 Uhr hin, weil wir uns absolut sicher sein können, dass die Adlers auch nicht früher kommen. Meist müssen wir dann tatsächlich nur noch eine lächerliche halbe Stunde warten, bevor der gesellige Abend in vollständiger Runde beginnen kann.
Einmal kamen die Adlers samstags um 14 Uhr zum Grillen zu uns, vereinbart hatten wir 12 Uhr. Wir erfuhren dann, dass sie um 15 Uhr eigentlich schon wieder einen anderen Termin in einer 40 Kilometer entfernten Stadt hatten, den sie natürlich ebenso wenig einhalten konnten wie das mit ihren Kollegen geplante Abendessen im Schwarzwald um 19 Uhr.
Während sie bei uns waren, riefen sie dann im 20-Minuten-Rhythmus immer wieder bei den anderen Freunden an, um den jeweils aktuellen Stand der voraussichtlichen Verspätung durchzugeben. Das Seltsame ist: Man kann ihnen trotzdem niemals böse sein, denn sie kommen keinesfalls aus Kalkül zu spät. Sie schaffen es einfach nicht früher.
Insgeheim heißen die Adlers bei uns nur noch „Die Meister der Verspätung“. Sie könnten eigentlich sehr gut als Zeitreisende durchgehen, nur dass sie die Zukunft immer ein bisschen zu spät erreichen. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht Armbanduhren tragen, die heimlich rückwärts laufen – nur um uns und alle ihre anderen Freunde zu ärgern. Ihr Motto scheint zu lauten: „Pünktlichkeit ist relativ.“ Denn während wir uns Sorgen machen, ob sie denn wohl noch kommen, sitzen sie längst schon da – nur eben nicht bei uns. Ihr Spezialgebiet ist es, den Moment der Ankunft bei uns so spannend wie irgend möglich zu gestalten.
Am vorigen Mittwoch klingelte um 20.15 Uhr das Telefon. „Wo bleibt ihr denn“?, fragten fröhlich feixend die Adlers. „Wir waren heute ausnahmsweise mal pünktlich um 20 Uhr im Biergarten, aber wir können euch nicht finden!“ Ich stutzte und sagte: „Unser Treffen war eigentlich auf Donnerstag angesetzt. Aber bleibt einfach schon mal sitzen und macht es euch gemütlich. Wir sind dann morgen pünktlich um 20 Uhr da.“
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