Die Wahrheit: Lebenslänglich Bayer: Würde des Amts
Schreckschraube Klöckner als Bundestagspräsidentin? Leute, wir haben schon Schlimmeres gesehen. Oder besser: Schlimmere.
D ie Aufregung im anständigen Teil des Netzes war angemessen groß, als bekannt wurde, dass die CDU Julia Klöckner ins Amt der Bundestagspräsidentin hieven möchte. Unwürdig sei es, das zweithöchste Amt im Staat mit einer Frau zu besetzen, die als Ernährungsministerin offen Werbung für Nestlé gemacht hat und die sich allen Ernstes auf Instagram ans rassistische Wahlvolk heranwanzen wollte. „Für das, was ihr wollt, müsst ihr nicht AfD wählen, dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU“, hatte sie gepostet. Wer nun glaubt, mit der Personalie Klöckner werde das Amt des zweiten Menschen im Staat desavouiert, dem sei ein Blick in die bundesdeutsche Geschichte empfohlen.
Reden wir also über Richard Stücklen, den fränkischen CSUler, der satte 41 Jahre im Bundestag saß und von 1979 bis 1983 Parlamentspräsident war. Den leidenschaftlichen Schafkopfspieler haben viele als humorvollen Mann in Erinnerung. Wie die Klöcknerin wurde er mal mit dem „Orden wider den tierischen Ernst“ ausgezeichnet. Auch Bundesminister, der für Post- und Fernmeldewesen, war er, bevor er Bundestagspräsident wurde. Das hat er also auch mit Klöckner gemein.
Was er ihr voraus hat, ist eine Mitgliedschaft in der NSDAP. Der ist er mit Mitte 20 im Jahr 1939 beigetreten. Kaum einer hat sich seinerzeit darüber aufgeregt, dass der zweite Mann im Staat mal Mitglied bei den Nazis war. Karl Carstens, der erste Mann im Staat, der 1979 zum Bundespräsidenten gewählt worden ist, war das ja schließlich auch.
Berührungsängste mit der Wirtschaft hatte Stücklen damals ebenso wenig wie Klöckner heute. Er selbst war an einer Firma beteiligt, die regelmäßig Aufträge vom Bund erhalten hat. Und als 1982 herauskam, dass CDU-Postminister Christian Schwarz-Schilling deshalb großes Interesse an der Verkabelung der Bundesrepublik hatte, weil eine Firma seiner Frau besonders profitieren würde, sah er darin kein Problem.
Berater, Berater
Und dann war ja da noch der Versuch, mit einem Beratervertrag über 400.000 D-Mark und einem sicheren Wahlkreis in Bayern einen FDP-Abgeordneten vom Übertritt in die CDU/CSU-Fraktion zu überzeugen, um der sozialliberalen Koalition die Mehrheit abzukaufen.
Es hat also nicht unbedingt den Falschen getroffen, als der grüne Jungabgeordnete Joseph Fischer 1984 dem nunmehrigen Bundestagsvizepräsidenten zugerufen hat: „Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!“ Ein Schmierlapp war Stücklen noch dazu. Mit einem Kollegen hat er mal gewettet, ob wohl die FDP-Abgeordnete Helga Schuchardt einen BH trage und ist ihr zum Zwecke der Überprüfung mit dem Daumen über den Rücken gefahren. Dass sich Stücklen für die Wiedereinführung der Todesstrafe eingesetzt hat, sei der Vollständigkeit halber auch noch erwähnt.
Viel mehr Schaden als Stücklen kann Klöckner, obwohl sie sich gewiss bemüht, dem Amt des Bundestagspräsidenten wirklich nicht zufügen.
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